Gelsenkirchen-Schaffrath. Wie fühlt sich Weihnachten an, wenn das Vergessen die Gegenwart übernommen hat? Die WAZ zum Festbesuch in einer Alzheimer-WG in Gelsenkirchen.

Es duftet nach Braten und Rotkohl, die vier Kerzen auf dem Adventskranz leuchten, es ist still, friedlich. Die acht Damen sitzen am Tisch, manche sichtlich abwesend, andere mit gespanntem Blick auf die Eingangstür. Zwischen 61 und 91 Jahre jung sind die Mitglieder dieser Wohngemeinschaft unter dem Dach der Ambulanten Pflegedienste GmbH APD. Dass heute Heiligabend ist – nicht allen hier ist das gerade bewusst. Aber als die „Concierge“, wie die Alltagsbegleiterinnen sich hier nennen, ein Weihnachtslied anstimmt, fallen alle umgehend ein. Absolut text- und melodiesicher. „Wir sagen euch an, den ersten Advent“ – macht den Anfang, bis zur vierten Kerze, bis zur letzten Zeile – „schon nahe ist der Herr“.

Weihnachten hängt für sie alle eng mit Liedern und Gedichten zusammen, mit schönen und schrecklichen Erinnerungen. „Geschenke gab es nur, wenn man ein Gedicht aufsagen konnte, sonst gab es nichts“, ruft Brigitte Weber in die Runde. Und fast alle nicken. Bei den Erinnerungen an vergangene Feste bleibt manch traumatisches Erlebnis gnädigerweise verschüttet – aber nicht bei allen gelingt das.

Die Mutter starb just Heiligabend – das vergisst man nicht

Louise Spiekermann (80) erzählt von ihren acht Geschwistern, den Feiern im großen Kreis. Sie strahlt. Noch immer treffe sich die Familie zum Fest – drei der Geschwister leben noch, den heiligen Abend verbringe sie beim Sohn, danach gehe es zu den Geschwistern. Doch plötzlich schießen ihr Tränen in die Augen, sie wendet sich ein wenig ab. „Meine Mutter ist an einem Heiligabend gestorben, nach dem Krieg. Da bin ich noch zur Schule gegangen. Das war sehr schlimm für uns.“ In welchem Jahr es genau geschah, weiß sie nicht mehr. Jahreszahlen sind für diese Runde nicht besonders wichtig.

Wie in der Bibel: Zur Weihnacht 1946 schliefen Mutter und die Kinder in einer Scheune

Nuray Özbeck tröstet Brigitte Weber aus der Gelsenkirchener Alzheimer-Wohngemeinschaft, die gerade von bösen Erinnerungen überwältigt wurde.
Nuray Özbeck tröstet Brigitte Weber aus der Gelsenkirchener Alzheimer-Wohngemeinschaft, die gerade von bösen Erinnerungen überwältigt wurde. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Brigitte Weber (85) allerdings weiß noch genau, wie ihre Weihnacht anno 1946 aussah. Sie hat es in ihrem Tagebuch verewigt, aus dem sie ihren Mitbewohnerinnen schon vorgelesen hat. Sie war mit ihrer Mutter und drei Geschwistern auf der Flucht aus Stettin, voller Angst vor russischen Soldaten. Zum Fest waren Mutter und Kinder in Wilhelmshaven gestrandet, in einer Scheune. „Das war hart. Wir waren ja Flüchtlinge, hatten nichts. Ich habe so großen Respekt vor meiner Mutter, was die allein mit uns vier Kindern geschafft hat“, denkt sie laut. Zwölf Jahre war sie damals, die kleine Schwester sieben. Die Geschwister hätten einander in jenen Jahren Spielzeuge weggenommen, um sie zum Fest zurück zu schenken, erinnert sie sich lächelnd. Minuten später übermannt auch sie der böse Teil der Erinnerung, sie zieht sich zurück in ihr Zimmer.

Die Damen kennen und verstehen einander. Manche lebt schon seit elf Jahren hier, seit Gründung der WG, alle aber leben mit der Diagnose „Alzheimer“. Das Vergessen nimmt bei ihnen zunehmend Raum ein, doch Manches vergessen sie nie. Wie die Gedichte. Brigitte Weber und Louise Spiekermann rezitieren mühelos auch weniger Bekanntes. Bei den religiöseren Texten spricht Christine Barthel ganz leise mit, eher ein Wispern denn ein Rezitieren. Kein Wunder, sie arbeitete einst mit den Nonnen im Hedwig Stift.

Als Kind von Horst aus zur Feier bei den Großeltern in Katernberg gelaufen

Leben in einer Alzheimer-Wohngemeinschaft in Gelsenkirchen: Ilse Mann (hinten rechts) hat Claudia Alex (Mitte) von den Zentnern von Zwiebeln erzählt, die sie als junge Frau geschnitten hat. Dabei geweint habe sie nie….
Leben in einer Alzheimer-Wohngemeinschaft in Gelsenkirchen: Ilse Mann (hinten rechts) hat Claudia Alex (Mitte) von den Zentnern von Zwiebeln erzählt, die sie als junge Frau geschnitten hat. Dabei geweint habe sie nie…. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Ilse Mann (91) erinnert sich, dass sie Weihnachten mit den Eltern immer von Horst aus zu ihrer Familie nach Katernberg wanderten, mit Kind und Kegel. „Da lagen nur Bretter über den Kanal, das war für uns Kinder ein echtes Abenteuer.“ Zu essen gab es Kaninchen. „Die hatten wir ja im Stall“, erinnert sie sich. Für das Kochen war sie selbst zuständig.

Mieter mit Lebensbegleitern

Die APD Gelsenkirchen betreibt das Haus mit den drei Alzheimer-Wohngemeinschaften in Gelsenkirchen-Schaffrath. Familiär, selbstbestimmt und gemeinschaftlich – das ist die oberste Maxime für diese Lebensform. Bis zu acht Personen leben in so einer WG, in der rund um die Uhr Betreuung und Pflege abrufbar sind bei Bedarf.

Die Bewohner heißen Mieter, nicht Patienten, und es ist ihr Zuhause, in dem die Lebensbegleiter zu Gast sind – soweit das Selbstverständnis der Einrichtung. Angehörige und das Quartier werden einbezogen. Vier Einrichtungen mit Wohngemeinschaften für Menschen mit demenziellen Erkrankungen betreibt und betreut die APD in Gelsenkirchen: in Schaffrath, Sutum, Rotthausen und auf Graf Bismarck

„Frau Mann ist besser als jeder Zyliss“, ruft Claudia Alex vom Begleiterinnenteam fröhlich aus der Küche. „Sie kann Zwiebeln blitzschnell superfein schneiden, das ist unglaublich. Gelernt ist gelernt; sie ist ausgebildete Hauswirtschafterin!“ Die derart Gepriesene lacht bescheiden. Ja, sie putze gern Gemüse. Sie tut es regelmäßig in der WG-Küche, in der es übrigens keine Dunstabzugshaube gibt, damit die Sinne der Bewohner durch die Gerüche besser angeregt werden.

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„Maria und Josef hatten Weihnachten ja auch nichts Besonderes zu Essen“

Die Kirchenkrippe fand im Flur der Gelsenkirchener Alzheimer-Wohngemeinschaft ein neues Zuhauses.
Die Kirchenkrippe fand im Flur der Gelsenkirchener Alzheimer-Wohngemeinschaft ein neues Zuhauses. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Für Brigitte Weber gehört ein Gänseessen zu Weihnachten, wenn auch nicht zu jenem Weihnachtsfest nach dem Krieg in der Scheune, auf das sie immer wieder zurückkommt. Es war zu prägend. „Was wir da gegessen haben, weiß ich nicht mehr. Nichts Besonderes jedenfalls.“ Besonderes gab es bei ihrer Tischnachbarin Christine Barthel sowieso nie zur Weihnacht: „Maria und Josef hatten auch nicht viel.“ Brunhilde Majewski nickt zustimmend.

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Sylvia Seeger hat für Weihnachten immer viel gebastelt. Aus Stroh oder was auch immer verfügbar war. Das tut sie noch heute gern. Die Adventskränze in der Wohngemeinschaft und der Schmuck sind selbstgemacht. Und so tragen alle hier ihren Anteil zum Gelingen des Festes bei. Ute Maria Ellermann, mit ihren 61 Jahren das „Küken“ in der WG, hat vieles vergessen: Aber nicht, wie sie anderen eine Freude machen kann mit einer spontanen Rückenmassage. Ganz selbstverständlich, wortlos und nebenbei tut sie das, mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht. Sie zählt zu den ersten, die in diese so besondere WG einzogen. Sie ist hier zuhause, auch wenn sie das nicht so ausdrücken kann. Aber das muss sie hier auch nicht.