Gelsenkirchen-Erle. Juso-Chef Kevin Kühnert ist Hauptredner beim SPD-Unterbezirksparteitag in Gelsenkirchen. Er steht für den Aufbruch mit sozialdemokratischer DNA.
Es geht um Aufbruch und Impulse, um Solidarität und Gerechtigkeit, um demokratische Grundwerte. um das „Comeback“ der Sozialdemokratie, wie es zunächst im Leitantrag für den nächsten Bundesparteitag heißt. Die Gelsenkirchener Sozialdemokraten positionieren sich Dienstagabend beim Unterbezirksparteitag und leiten lokal die programmatische Neujustierung ein.
„Das Ergebnis der Europawahl war auch für die SPD in Gelsenkirchen katastrophal, das kann man nicht schönreden“, räumt der Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Markus Töns zu Beginn ein. Auftrieb für den ersehnten Befreiungsschlag versprechen sich rund 180 Delegierte an diesem Abend besonders von einem Mann: Kevin Kühnert, Juso-Bundesvorsitzender, gerade 30 geworden, gefragter Interviewpartner, Gastredner und aktuell so etwas wie eine sozialdemokratische Lichtgestalt.
Kevin Kühnert spricht in Gelsenkirchen über Hartz IV und die Situation der SPD
Es geht um das Papier zur Modernisierung des Sozialstaats, mit dem die SPD Hartz IV hinter sich lassen will, die Anerkennung von Lebensleistung und neue Chancen in den Mittelpunkt stellt – was Kühnert ausdrücklich begrüßt und propagiert.
Geradlinig und analytisch, wenig polarisierend, leise, zwischendurch sehr routiniert und weitgehend unaufgeregt tritt der 30-Jährige auf. Und wird dabei durchaus gehört: vom SPD-Parteitag, von Politgremien und Gazetten in der gesamten Republik.
Der Juso ist Hoffnungsträger und Vordenker in einer Person, auch wenn er phasenweise so überkommt wie der Leiter eines Pro-Seminars über Grundlagen der SPD-Befindlichkeit.
Kühnert: Sicherheitsversprechen des Sozialstaats hat Risse
Politik habe sich entfremdet von der Lebenswirklichkeit, sie „lässt Menschen mit Verdruss zurück“ und verstärke bei vielen „das Gefühl des Abgehängtseins“, zudem habe das „Sicherheitsversprechen des Sozialstaats Risse bekommen“, stellt Kühnert fest.
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Er hat dabei diejenigen im Blick, „unter denen sich die Falltür von Hartz IV öffnet“, die in Großstädten verzweifelt bezahlbaren Wohnraum suchen, die nur Zeitarbeitsverträge haben, die in Scheinselbstständigkeit arbeiten, die dringend Mindestlöhne (12 Euro), Grundsicherung und eine Altersversorgung brauchen, die ein würdiges Leben ermöglichen.
Kühnert sieht Erwerbslosigkeit als gesellschaftliche Verantwortung
Das Ende der Bedarfsgemeinschaften („sie stempeln Menschen ab und entmutigen, das ist nie die Botschaft unserer Partei gewesen“) und auch einen breit aufgestellten sozialen Arbeitsmarkt „im besten Fall zu tariflicher Bezahlung“ fordert Kühnert und macht unter dem Beifall der Delegierten deutlich, dass das alles keine Frage der Finanzen sei: „Wir sehen Erwerbslosigkeit als gesellschaftliche Verantwortung“, postuliert er. Und: „Es geht immer um Verteilungsfragen in unserer Gesellschaft. Gemeinwohl hat sich nicht zu orientieren an der Kassenlage, sondern daran, was die Gesellschaft braucht.“
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(Richtungs)-Streit hat die SPD in den letzten Monaten gezeichnet. Streitkultur, die inhaltliche Auseinandersetzung und das gemeinsame Ringen um den richtigen Weg, machen an diesem Abend neben Kühnert auch lokale Sozialdemokraten deutlich, gehören zum laufenden Prozess. Aber „eben auch gegenseitige Wertschätzung und Respekt“. Daran, sind sich viele einig, habe es gemangelt.
Begeisterungsfähigkeit und Begeisterungswillen
„Ich möchte, dass unsere Partei glasklar die Gemeinwohlpartei ist“, sagt Kühnert und kommt zu dem Punkt, der ihm bundesweit den Ruf des Kapitalistenschrecks und potenziellen Zwangsenteigners einbrachte: „In einer Gesellschaft, in der es um Daseinsvorsorge und Gemeinwohl geht, müssen wir feststellen, dass das allein mit der Funktionsweise eines kapitalistischen Marktes, der auf Profite ausgelegt ist, nicht funktioniert. Unser Gemeinwesen hat einen Preis.“
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Was Kühnert den Delegierten nahebringt, ist eigentlich sozialdemokratische DNA und Selbstverständlichkeit. Dass die SPD ihre Botschaften nicht nur formulieren, sondern auch setzen kann und damit letztlich wieder mehr Menschen erreicht, ist der Landtagsabgeordneten Heike Gebhard wichtig. „Begeisterungsfähigkeit und Begeisterungswillen auch mit Begeisterung vorzutragen“, fordert nicht nur Kühnert auf dem Parteitag, der dann schließlich noch das große Thema Klimawandel streift. Jetzt, so Kühnerts Logik, müsse zwingend etwas geschehen. „Man kann mit der Erde nicht verhandeln.“ Und retten könne man sie sicher nicht mit der Logik von großen Koalitionen.