Gelsenkirchen. . Bundestagskandidat Markus Töns will Überschüsse in Kitas, Ausbildung, Rente und die Sanierung der Infrastruktur stecken, statt in die Rüstung.
- In der Reihe „SommerGEspräch“ befragte die WAZ Markus Töns zu seiner politischen Agenda
- Der SPD-Bundestagskandidat misst massiven Investitionen in Bildung und Infrastruktur Priorität zu
- Die Neu-Organisation des Sozialen Arbeitsmarktes hält der 53-Jährige für einen Fehler
Über seine erste Kandidatur für den Deutschen Bundestag und seine politische Agenda spricht Redakteur Nikos Kimerlis mit Markus Töns, seit 2010 stellvertretender Vorsitzender der Gelsenkirchener SPD und seit 2005 Abgeordneter des Landtags NRW.
Herr Töns, wie beurteilen Sie die Situation der SPD?
Markus Töns: Die Umfragen sagen nicht aus, dass wir derzeit gut dastehen. Aber die letzten Wahlen haben gezeigt, dass die Aussagekraft solcher Umfragen geringer wird. Die maßgebliche Frage für die Menschen ist: Wollen sie einen Wechsel oder wollen sie keinen? Die SPD ist die Partei, die auf die entscheidenden Fragen die richtigen Antworten gibt. Die Rente erst 2030 anzupacken, wie die CDU es ankündigt, ist nicht richtig. Wir müssen es jetzt tun, weil jetzt die Probleme auf uns zukommen. Wir müssen uns jetzt um die Zukunft der Industriearbeitsplätze im Zeitalter der Digitalisierung kümmern und wir müssen die Frage beantworten, was wir in Kindertagesstätten und in Bildung, auch in Weiterbildung, investieren. Wollen wir 30 Milliarden in die Rüstung stecken oder doch lieber in Kitas, Ausbildung, Rente und die Sanierung von Straßen und Brücken? Wir haben einen sehr guten Kandidaten – Martin Schulz kann Kanzler. Wir hatten zwölf Jahre keine Kanzlerin, sondern eine Verwalterin ohne Entscheidungsfähigkeit.
Schwer in Zeiten brummender Wirtschaft, die Kanzlerin aus ihrer Führungsposition zu verdrängen.
Vielen Menschen geht es gut. Aber es gibt auch viele, die merken, es ist nicht alles Gold was glänzt. Menschen, die Abstiegsängste haben, die keinerlei Chance auf Arbeit haben. Davon haben wir in Gelsenkirchen viele. Die Menschen merken auch, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander geht – zwischen einigen, die ganz viel haben, und vielen, die ganz wenig haben. Die Digitalisierung spielt für das Leben von morgen eine wichtige Rolle. Unser Wohlstand hängt davon ab, ob wir es schaffen, in diese Veränderung voll einzusteigen.
Wie stehen Sie zum neuen Sozialen Arbeitsmarkt?
Die von der schwarz-gelben Landesregierung geplanten Änderungen am Projekt der Vorgängerregierung sind ein Fehler. Hier wird eine Chance vertan. Der Gelsenkirchener Appell, der einen dauerhaften sozialen Arbeitsmarkt fordert, wurde auf breiter Basis von Parteien und Sozialverbänden mitgetragen. Realistisch ist, dass wir dafür Zeit brauchen und die Betroffenen erst einmal wieder an die Arbeit heranführen müssen. Ein solches Projekt einzustellen mit dem Argument, das machen wir nur, wenn Arbeitsmaßnahmen direkt in den ersten Arbeitsmarkt führen, ist ein Riesenfehler. Ich bin enttäuscht, dass Oliver Wittke, der an den Koalitionsverhandlungen in Düsseldorf teilgenommen hat, dies gegenüber der FDP nicht hat durchsetzen können. Ich weiß, dass sogar FDP-Politiker hier vor Ort darüber tief enttäuscht sind. Die besondere Situation in Gelsenkirchen ist bei den Koalitionären in Düsseldorf offensichtlich nicht bekannt. Auch auf der Bundesebene hätten wir schon weiter sein können. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hätte gerne durch den sogenannten Passiv-Aktiv-Transfer mehr Mittel für den Sozialen Arbeitsmarkt gewonnen. Dazu benötigt sie jedoch die Zustimmung von Bundesfinanzminister Schäuble, der dazu nicht bereit war.
Was halten Sie vom Ruhr-Soli?
Ich bin nicht für einen Ruhr-Soli. Ich bin für eine gezielte Förderung strukturschwacher Regionen durch den Bund. Dazu gehört dann auch das Ruhrgebiet. Ziel der Förderung muss es sein, gleiche Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Den Solidaritätszuschlag für kleine und mittlere Einkommen wird die SPD ab 2020 abschaffen.
Mit welchen Themen treten Sie an, um für die SPD und Gelsenkirchen die Stimme zu erheben?
Da gibt es mehrere Schwerpunkte. Neben einem echten Sozialen Arbeitsmarkt geht es um gute und unbefristete Arbeit. Bildung ist das zweite große Thema. Unser Ziel ist die Gebührenfreiheit von der Kita bis zum Master oder Meister. Der Ausbau von Schulen, Bildungsangeboten, Kitas, der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Kita und Grundschule, all das wollen wir umsetzen. Dazu müssen die Kommunen finanziell ordentlich ausgestattet werden. Es kann nicht sein, dass der Bund auf Überschüssen im Haushalt sitzt und Städte wie Gelsenkirchen nicht in der Lage sind, diese wichtigen Dinge zu finanzieren. Und dann sind da noch die Industriearbeitsplätze und die Digitalisierung. Wenn wir da neue Entwicklungen verpassen und nicht offensiv mitgestalten, stehen wir bald vor großen Problemen. In Bayern fährt beispielsweise auf einem Testgelände ein Bus herum, dessen Einzelteile fast komplett aus dem 3D-Drucker kommen.
Und die Finanzierung?
Wie gesagt: Der Bundesfinanzminister sitzt auf Milliarden. Außerdem ist es unser Ziel, den Spitzensteuersatz, der allerdings später einsetzen soll, anzuheben und sehr große Erbschaften – also nicht Omas kleines Häuschen – stärker zu besteuern. Man muss sich das mal vorstellen: In Deutschland werden pro Jahr circa 400 Milliarden Euro vererbt. Es ist also genügend Geld da, um mehr in Bildung zu investieren und auch mehr Gerechtigkeit bei Abgaben und Steuern zu schaffen. Von gut ausgebildeten Menschen profitiert auch die Wirtschaft.
Wie kann Gelsenkirchen bei Industrie 4.0 stärker mitwirken?
Ich glaube, die Westfälische Hochschule muss noch stärker in die Stadt hineinwirken. Auch dabei kann der Bund mit Förderprogrammen helfen. Ich könnte mir vorstellen, dass mehr Institute in die Stadt ziehen, neue Industrie- und Technologie-Standorte auch als Ausgründungen der Hochschule entstehen.
In welchen Ausschüssen möchten Sie mitarbeiten?
Auch interessant
Gemeldet habe ich mich für die Ressorts Wirtschafts- und Europapolitik. Ich möchte daran mitarbeiten, dass wir in einem sozialen und solidarischen Europa leben. Denn Solidarität auf europäischer Ebene bedeutet mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Gerade jetzt gibt es aber viele Entwicklungen, die die EU vor eine Zerreißprobe stellen. . .
Die Türkei entfernt sich bedauerlicherweise immer weiter von der Rechtsstaatlichkeit. Wir wollen die Gespräche nicht abreißen lassen. Die aktuelle Regierung ist aber auf dem Kurs, den sie eingeschlagen hat, für mich kein Verhandlungspartner für den Beitritt zur Europäischen Union. Entscheidet sich die Türkei für die Demokratie, dann gerne. Beunruhigend finde ich auch die Entwicklungen in Polen und Ungarn. Die Politik der dortigen Regierungen steht in vielen Bereichen im Gegensatz zu den Werten der Europäischen Union.
Wie frustrierend war es für Sie, dass das Freihandelsabkommen TTIP letztendlich gescheitert ist?
Frustrierend war daran, dass TTIP und die Verhandlungen so intransparent geführt worden sind. Die Bürger sind nicht mitgenommen worden. Die Kritik an den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und der eingeschränkte Zugang zu dem, was beschlossen werden soll, waren daher berechtigt. Besonders erschreckend für mich war die Erkenntnis, dass in dieser langen Zeit der Gespräche nicht ein einziges der verhandelten Kapitel beendet worden ist.
Ein Aufreger ist der Diesel-Skandal, wie stehen Sie zu dem Thema?
Es hat mich erschreckt, wie sprachlos Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) war. Offenbar ist das Kraftfahrt-Bundesamt nicht in der Lage, Autos unabhängig zu prüfen. Für mich ist klar: Die Industrie hat die Pflicht, die betroffenen Fahrzeuge technisch nachzurüsten. Software-Updates reichen nicht, um die gesetzlichen Normen zu erfüllen. Die deutsche Automobilindustrie ist zurzeit nicht gut aufgestellt für die Zukunft. Es besteht die Gefahr, dass hier der Einstieg in die E-Mobilität verschlafen wird. Es sind allerdings auch bei dieser Technik noch viele Fragen offen, beispielsweise wie E-Autos entsorgt werden. Und auch woher der Strom kommt, ist entscheidend. Er darf nicht etwa ausgerechnet aus der Verstromung von Braunkohle kommen.
Lebensmittelpunkt bleibt Gelsenkirchen
Haben Sie ihr Berliner Netzwerk schon geknüpft, eine Wohnung gesucht?
Über meine Arbeit im Landtag habe ich bereits viele Kontakte geknüpft. Es ist aber zu früh, über Berlin zu reden. Allein schon aus Respekt vor den Wählern. Ich möchte lieber erst die Wahl abwarten. Ich bin optimistisch, dass ich den Wahlkreis gewinne. Dann reise ich mit Demut vor der Aufgabe in die Hauptstadt. Ich werde meinen Lebensmittelpunkt in Gelsenkirchen behalten und zwischen Berlin und dem Ruhrgebiet hin und her pendeln. Denn: Nirgendwo ist Politik spürbarer als in der Kommune. Da darf man den Kontakt nicht verlieren. Das habe ich mit meiner Familie auch so besprochen.
Joachim Poß scheidet nach 37 Jahren aus, gibt es eine Staffelstabübergabe, beziehen Sie sein Büro und wie lange sehen Sie sich im Bundestag?
Zunächst müssen mir die Wähler den Auftrag erteilen, für sie zu sprechen. Bekomme ich das Mandat, so nutze ich gern seine Kontakte. Ich bin jetzt 53 Jahre alt. So lange wie er werde ich Parlamentsarbeit daher nicht machen können. Mit Blick auf die Rente mit 67 Jahren würde ich sagen: Mindestens noch eine weitere Legislaturperiode möchte ich die Politik des Landes mitgestalten.
Wie entspannt der Privatmensch Markus Töns?
Ich koche gern. Freie Zeit verbringe ich am liebsten mit meinen Kindern – die sind 20, 27 und 29 Jahre alt. Da gibt es feste Termine, die sind für sie geblockt, komme was wolle. Außerdem ist Schalke 04 meine Leidenschaft. Kino mag ich ebenso, oder ich schaue mir französische Krimis an. Auch lese ich gerne, am liebsten die Krimis von Håkan Nesser.
Was würden Sie sagen, wenn eines Ihrer Kinder in die Politik ginge?
Da hätte ich kein Problem mit. Meine drei Kinder sind interessiert an Politik, ich würde jede Entscheidung akzeptieren.