Gelsenkirchen. An der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen hat Ex-Schulleiter Georg Altenkamp viel bewegt. Auch im Ruhestand ist die Schule sein Thema.
Georg Altenkamp (70) leitete bis vor drei Jahren die Gesamtschule Berger Feld. Aus der SPD trat er vor kurzem aus. Mit WAZ-Redakteurin Sibylle Raudies sprach er über seine Einschätzung der Situation an Schulen in Stadt und Land heute.
Herr Altenkamp, Sie sind seit 2015 im Ruhestand. Verfolgen Sie die Schulpolitik und die Situation an Schulen weiterhin?
Natürlich. Und es gibt immer die gleichen Probleme. Seit 25 Jahren, als ich am Berger Feld angefangen habe, werden dieselben Probleme immer wieder wegen aktueller Dinge nach hinten geschoben statt zu Ende gedacht. Es ist zum Beispiel verheerend, dass auch diesmal Gymnasien und Realschulen so viele Schüler nach der Erprobungsstufe abschulen. Und dass wieder so viele Jugendliche in Gelsenkirchen die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Mir geht es dabei nicht darum, zu polarisieren. Es geht vielmehr darum, für die Kinder und Jugendlichen dieser Stadt die seit Jahren bekannten Probleme erneut öffentlich zu machen und endlich strukturelle Lösungsentscheidungen zu treffen.
Haben da die Lehrer versagt?
Ich habe großes Verständnis für die Nöte der Lehrer. Die Politik hat Schulen in der Vergangenheit zu extrem belastet. Besonders schwer ist es für Grundschulen. Insgesamt haben fünf Bereiche der Gesellschaft versagt meiner Meinung nach: Erstens die Eltern, die ihre Kinder auf andere Schulformen schicken als die Grundschule empfiehlt. Zweitens die Schulleitungen und Kollegien, die diese Kinder wider ihre Überzeugung aufnehmen und dann nicht die langfristige Laufbahnverantwortung dafür übernehmen. Drittens der Schulträger, der seit Jahren die notwendigen Steuerungsentscheidungen zur Schulentwicklung treffen müsste, viertens der Gesetz- und Verordnungsgeber im Land und fünftens die Schulpolitik in Stadt und Land.
Was macht die Stadt falsch?
Ein Beispiel: Es macht keinen Sinn, in dieser Stadt eine neue Sekundarschule zu errichten. Man müsste in der Innenstadt zwei Gymnasien zusammenlegen, Platz schaffen, damit konsequent nur Schüler mit entsprechender Grundschulempfehlung aufs Gymnasium gehen. Dann könnte man eine vierzügige Gesamtschule einrichten, die sicher mit der Förderkompetenz, die Gesamtschulen ja eindeutig haben, Potenzial für zwei bis drei Züge in der Oberstufe hätte. Und man könnte mit den Gymnasien in der Oberstufe kooperieren bei den kurzen Wegen. Das wäre eine gute Perspektive für Schüler. Die CDU wäre sogar bereit gewesen, anstatt des Torsos Sekundarschule eine Gesamtschule mitzutragen! Verheerend ist, dass es immer noch keinen Schulentwicklungsplan für weiterführende Schulen gibt. Wir müssen doch feste Zielvorstellungen entwickeln, die langfristig standhalten und die auch den geänderten Anforderungen gerecht werden.
Wäre es gut, wenn die Grundschulempfehlung wieder bindend wäre für die Schulformwahl?
Auf jeden Fall. Die Grundschulkollegien haben die notwendige Kompetenz, um verantwortungsbewusste Empfehlungen auszusprechen. Das ist durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und durch langjährige praktische Erfahrung abgesichert. Und man könnte allerdings auch die Aufstiegsmöglichkeiten, die es im gegliederten System gibt, mehr nutzen und fördern. Außerdem müsste man mal kontrollieren, wo die Förderzuschüsse für Schulen, die viele benachteiligte Schüler unterrichten, auch wirklich für die Förderung dieser Kinder genutzt werden und nicht für anderes.
Sollte es Ihrer Ansicht nach nur Gesamtschulen geben?
Nein, es geht nicht um Bildungsideologie. Ich denke, das Zwei-Säulen-Modell mit Gesamtschulen und Gymnasien wird sich hoffentlich schnell durchsetzen. Es geht mir nicht um Abschaffung des gegliederten Systems. Wichtig wäre, nicht immer noch mehr Schulformen zu erfinden. Es ist nachgewiesen, dass unser Überangebot an Schulformen nur zur Verwirrung der Eltern und Schüler führt. Trotzdem wird jedes Jahr schulpolitisch „eine neue Sau durchs Dorf getrieben“. Das belastet die Lehrer und Schüler viel zu sehr. Wir müssen erstmal die grundlegenden Probleme der alten Reformen lösen, Konzepte evaluieren, auswerten, bevor wir immer neue Reformversuche starten. Und wir müssen die Jugendlichen nach der Schule im Blick behalten. Der hohen Jugendarbeitslosigkeit entgegenwirken. Wir brauchen ein schlüssiges nachhaltiges Langzeitkonzept von der Kita bis zum Berufsausbildung bzw. zum Studium für die Kinder und Jugendlichen dieser Stadt.
Was kann man akut ändern?
Wir müssen weitere Berufe an die Schulen bekommen. Nicht nur Sozialpädagogen, sondern auch Logopäden, Sprachtherapeuten, Motopäden, Psychologen, Konfliktberater. Sie müssen vor Ort sein, wenn Defizite erkannt sind. Es nutzt nichts, diagnosefähige Lehrer zu haben und zu wissen, dass ein Kind Konzentrationsprobleme hat, und sich deshalb zwischendurch bewegen muss, wenn niemand da ist, der sich darum kümmern kann, dass die Defizite behoben werden. Es funktioniert in zu vielen Fällen nicht, wenn die Eltern das nach der Schule tun sollen. Schon gar nicht an Ganztagsschulen. Die Kompetenz bei Sprachförderung und allem anderen muss in der Schule sein. Das funktioniert in anderen Ländern vorbildlich, in Skandinavien, aber auch in den Niederlanden und Belgien. Das ist ein notwendiger Schritt. Die Schulen in dieser Stadt müssen sich diesen Ansprüchen stellen müssen sich verändern.
Denken Sie da auch an die Inklusion?
Auch, natürlich. Wir waren damals die ersten, die Kinder mit Förderbedarf aufgenommen haben. Aber wir hatten auch die entsprechende Ausstattung. Mit Differenzierungsräumen, Doppelbesetzung. . . nur so kann das auch funktionieren. Ich habe schon damals gesagt, wir müssen Schwerpunktschulen bestimmen, die Inklusion praktizieren und diese auch gut ausstatten. So, wie es bisher lief, dass jeder ein bisschen gemacht hat, das funktioniert nicht. Wir müssen praktische Lösungen finden, die für Kinder und ihre stark belasteten Eltern funktionieren.
Finden Sie den Beschluss des derzeitigen Bildungsministeriums richtig, der ja in diese Richtung geht?
Ja. Wir haben sonst auch zu wenige Sonderpädagogen, es sind zu wenige ausgebildet worden. Es fehlen generell Lehrer. Die Bildungsplanung der Länder war einfach schlecht.
Die Schule als pädagogisches Unternehmen verstanden
Sie haben am Berger Feld Preise bekommen, sicher auch gute Arbeit geleistet. Das gilt auch für die Gesamtschule Ückendorf. Warum hat sie es dort so schwer?
Kollegium und Leitung in Ückendorf leisten wirklich ausgezeichnete Arbeit. Und das wird auch wahrgenommen, das dreht sich bald. Bei uns im Berger Feld gab es auch nach einem Zwischenfall in den 1990er-Jahren schwere Anmelde-Einbrüche. Nach drei Jahren ging es wieder aufwärts, und das wird in Ückendorf auch bald so sein. Kollegium und Schulleitung arbeiten sehr engagiert an pädagogischen Integrations- und Förderkonzepten.
Sind denn Schule und Schüler damals und heute noch vergleichbar?
Absolut. Damals hatten wir den Balkankrieg. Albaner, Serben und Kroaten, die hierhin geflohen waren, haben die Auseinandersetzungen auf unseren Schulhöfen fortgeführt. Und zwar sehr handgreiflich. Heute sind es andere Konflikte, aber die Probleme sind die gleichen. Wir müssen nur wissen, wie wir sie lösen. Und das Personal dafür haben, um es gut zu machen. Damals wie heute.
Schulen stehen heute ja auch im Wettbewerb. Ist das richtig?
Es geht nicht um Wettbewerb. Schulen müssen aber Profile entwickeln. Internationalität ist ein wichtiger Faktor für alle. Internationale Erfahrungen befördern entscheidende Reifeprozesse. Aber darüber hinaus kann es doch noch andere Schwerpunkte, Profile geben. Das ist eine Chance, gerade für die Schüler in dieser bunten Stadtgesellschaft. Wir haben damit früh angefangen durch eine multikulturelle Schülerschaft und durch eine Vielzahl von Schüleraustauschen. Ich habe meine Schule nicht als Anstalt sondern als modernes pädagogisches Unternehmen verstanden und damit den Schülern viele Möglichkeiten eröffnet. Damit habe ich mir nicht nur Freunde gemacht.
Sind Sie heute noch pädagogisch aktiv?
Nein. Ich stehe jetzt freitagabends auf der anderen Seite. Ich lerne zur Zeit Spanisch an der Volkshochschule. Beruflich bin ich bei meinem langjährigen türkischen Freund auf dessen Bitte als Assistent der Geschäftsleitung dreimal in der Woche in den Bäckereibetrieb eingestiegen. Das war schon lange unser Plan. Das ist ein ganz anderer Arbeitsbereich, er macht mir jedoch auch großen Spaß. Und im Alltag und in der Freizeit pflegen meine Frau und ich die gemeinsamen Interessen an Politik und Kultur unserer vielen internationaler Kontakte, das macht uns noch mehr Spaß!