Gelsenkirchen. Für die Flugplatzlinie 9 lieferte eine Großveranstaltung den Bau-Impuls. 1912 wurde der Landeplatz eröffnet, wenig später die Trabrennbahn und die Kondor-Flugzeug-Werke.

1895 – Gelsenkirchen, Essen und Bochum sind Landkreise, Rotthausen ist eine eigenständige Gemeinde. Und dennoch denkt man bereits über die damaligen Ortsgrenzen hinaus. Die 1896 gegründete Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahn AG Bogestra fährt seit 1894 zwischen Bochum und Herne, 1896 geht es vom Schalker Markt nach Ückendorf, wenig später wurde das Bochumer Nahverkehrs-Netz ans Gelsenkirchener angeschlossen.

Streitpunkt Leitungsmasten

Es ist die Zeit des stadtübergreifenden Linienaufbaus. Und der ersten Widerstände. Aufgedröselt hat sie Hans-Joachim Koenen im nunmehr 9. Heft, das der Heimatbund Gelsenkirchen lokalhistorischen Themen widmet. Im Mittelpunkt von Koenens Interesse steht die sogenannte Flugplatzlinie. 1912 wurde sie als Linie 9 eröffnet. „Interessant und bewundernswert ist die Geschwindigkeit, mit der man vor 100 Jahren eine gut zwei Kilometer lange, zweigleisige Straßenbahnstrecke innerhalb eines halben Jahres bauen konnte. Planung mit eingeschlossen“, betont Koenen. Heute undenkbar.

Doch auch damals lief längst nicht alles ohne Protest und Geschacher. Über die Leitungsmasten wurde (aus optischen Gründen) gestritten, über die Streckenführung, die Finanzierung. Vor allem in Rotthausen zeigte man sich widerspenstig bei der Kosten-Beteiligung und feilschte um 11.600 Mark.

© Stadtarchiv

Der Anlass, überhaupt so schnell tätig zu werden, ist ebenfalls aus heutiger Sicht äußerst ungewöhnlich und zeugt vom Fortschrittsdenken der Zeit. Auslöser war ein Flugpionier. Der Essener Kaufmann Ernst August Schröder, Ballonfahrer und Vorsitzender der Rheinisch-Westfälischen Motorluftschiff-Gesellschaft wurde auf der Suche nach einem geeigneten Flugplatz 1911 auf das Gut Nienhausen im Norden der Gemeinde Rotthausen aufmerksam. Hier entstand der erste kommunale Flugplatz Deutschlands und in einem Zuge wenig später auch die Trabrennbahn. Am Pfingstsonntag 1912 wurde der Landeplatz eröffnet, am 4. August 1912 die erste „Krupp-Flugwoche“ veranstaltet. 20 Flieger kämpften um 100.000 Mark Preisgelder. Und damit das geneigte Publikum bequem zur Schau kam, wurde die Tram – vom Bahnhof aus über Ahstraße, die dafür als Promenadenstraße ausgebaute Zeppelinallee zur Essener Straße – als Zubringer gebaut. Mit dem Freizeitverkehr, stellte man bald fest, war die Strecke kaum ausgelastet. In Essen wurde da längst an der doppelgleisigen Strecke Katernberg – Flugplatz in Fortführung der Linie 8 geplant. 1914, erneut bei einer Flugwoche, wurde im Juli die durchgehende Verbindung von Margarethenhöhe über Essen Hauptbahnhof und Katernberg bis zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof eröffnet.

„Dass die Bahnstrecke kurz nach Kriegsbeginn eingeweiht wurde“, nutzte vor allem der auf dem Flugplatz gelegenen Firma Kondor, stellt Koenen fest. „So konnten die vielen Mitarbeiter leichter ihren Arbeitsplatz erreichen.“1200 waren in der Spitze beschäftigt mit dem Flugzeugbau. Der Erstflug einer Kondor-„Taube“ ist auf den 12. Oktober 1912 datiert, ab 1916 wurde auch das Modell „Albatros B.II“ gefertigt. Bis 1918 wurden in Rotthausen rund 480 Flugzeuge gebaut.

Die Flugplatzlinie ist Geschichte. Die Linien 9 und 8 von Bogestra und Evag wurden später zu 7/17, dann zur 27 (1977), 1980 zur 127 und schließlich 1998 zur 107. Die Nummern wechselten, der Streckenverlauf auch, geblieben ist es bei den Endstationen von 1914: Essen-Bredeney – Gelsenkkirchen Hauptbahnhof.

Bogestra-Vorstand beklagt „Rohheiten und Tätlichkeiten“

Rüde Fahrgäste, Angriffe, Beschimpfungen des Personals? Das gab’s auch schon vor 100 Jahren.

Im 1. Weltkrieg ging der Bogestra das Fahrpersonal aus. Die wehrfähigen Männer wurden an die Front geschickt. Ab März 1916 sah man sich „gezwungen“, Frauen als Schaffnerinnen einzusetzen, auch wenn die Aufsichtsbehörde ihnen die Arbeit nicht wirklich zutraute und ihnen absprach, an schienengleichen Bahnübergängen kreuzende Lokomotiven rechtzeitig zu erkennen.

In der Praxis zeigte sich, dass die Frauen sowohl als Wagenführerinnen und Schaffnerinnen einen guten Job machten. Man habe „befriedigende Erfahrungen gemacht“, stellte die Bogestra in einem Vorstandsbericht für 1916 fest. Zu klagen sei nur „vielfach über das Verhalten der Fahrgäste gegenüber den weiblichen Angestellten, die häufig Rohheiten und sogar Tätlichkeiten ausgesetzt sind.“ Aus Sicht der Essener SEG verschlimmert sich die Situation bis 1918 massiv auf der Linie 8. Gerade die Arbeiter der Kondorwerke, heißt es in einem Bericht, „haben es durch brutale Behandlung unserer weiblichen Angestellten dahin gebracht, dass wir nur mit Mühe die Schaffnerinnen noch bewegen konnten, diese Linie zu befahren.“ Ebenso seien verschiedene Triebwagen beschädigt worden, einmal „sogar hat ein Arbeiter die Wagenführerin vom Wagen gedrängt, selbst gefahren und den Fahrschalter des Wagens vollständig unbrauchbar gemacht“.

Auf den Spuren der „Flugplatzlinie“, Heft 9, Heimatbund Gelsenkirchen e. V., 5 Euro (u.a. bei der Buchhandlung Junius)