Essen-Rüttenscheid. . Aus dem Rüttenscheider Nachtleben ist die Heilsarmee nicht wegzudenken. Seit Jahrzehnten ziehen die Ehrenamtlichen im Sinne der Nächstenliebe durch die Essener Gaststätten. Wir haben Birgit Oesterlen und Annette Belz auf ihrer ungewöhnlichen Kneipentour begleitet.
Freitagabends, wenn in den Rüttenscheider Kneipen das erste Bier angezapft wird und die Nachteulen ausschwärmen, gehören sie einfach zum Straßenbild: In ihren Uniformen mit den frisch aufgebügelten weißen Blusen, dem roten Heilsarmee-Abzeichen und dem typischen Hut sind Annette Belz und Birgit Oesterlen am Rüttenscheider Stern kaum zu übersehen, wenn sie um Punkt 19.30 Uhr ihre ungewöhnliche Kneipentour beginnen.
25 Gaststätten liegen vor ihnen. Bis Mitternacht, schätzt Kapitänin Annette Belz, werden die beiden im Auftrag der Nächstenliebe unterwegs sein. Sie bringen ihr „Heilsarmee-Magazin“ gegen eine Spende unters Volk, am wichtigsten sei ihnen dabei aber die Begegnung, erklärt Birgit Oesterlen. Sie ist an diesem Abend zum ersten Mal in Rüttenscheid unterwegs, die Aufregung ist ihr deutlich anzumerken. Kollegin Annette Belz ist da deutlich gelassener - nach ihrem dreiwöchigen Urlaub freut sie sich, endlich wieder auf die Straße zu gehen. Seit 2009 ist Belz in Rüttenscheid unterwegs, die Heilsarmee selbst prägt aber schon seit vielen Jahrzehnten das Nachtleben. Der Weg ist dabei genau abgesteckt: „Wir sind nicht in allen Kneipen gern gesehen“, bedauert Belz.
In England selbstverständlich
Die erste Station ist deswegen umso erfreulicher: Im Chili&Olive an der Emmastraße begrüßt Inhaberin Vino Schulz die beiden Frauen herzlich und holt zur Erfrischung sofort zwei Gläser Mineralwasser. Schulz wuchs in England auf, wo die Heilsarmee dazu gehört wie die Caritas in Deutschland. „Wo waren Sie denn so lange?“, fragt Stammgast Werner Cichon und zückt seine Geldbörse. Für ihn und seine Frau Barbara ist es selbstverständlich, die Spendenbüchse zu füllen: „Was die Heilsarmee tut, macht kaum noch jemand. Anderen Menschen ohne eigenen Vorteil bedingungslos zu helfen. Ich habe große Achtung vor diesem Idealismus“, sagt Cichon.
Er soll stellvertretend für viele Menschen seiner Generation stehen, die den beiden Frauen an diesem Abend begegnen. „Gerade ältere Menschen unterstützen uns gerne. Ich höre oft, dass sie es der Heilsarmee zu verdanken haben, nach dem Krieg etwas zu essen bekommen zu haben oder sie mit unserer Hilfe einen geliebten Menschen wiederfanden“, sagt Birgit Oesterlen.
Das Motto von William Booth, der die Heilsarmee 1865 aufgrund der Missstände in den Slums Londons gründete, habe dabei bis heute Bestand, sagt Annette Belz: „Mit Predigen bekommt man keine hungrigen Mägen satt.“ Da ist es nur folgerichtig, dass das Essener Korps eine Suppenküche an seinem Standort in der Lazarettstraße 10 betreibt.
Viel Zeit zum Plauschen im Chili&Olive bleibt nicht, die Zeit drängt. Mit einem „Gott segne Sie“ verabschieden sich die Damen freundlich. Denn der Glaube ist das, was die beiden antreibt - was in der heutigen Zeit ebenso ungewöhnlich ist wie die Uniformen, die sie tragen.
„Wer sind die denn?“
Auf dem Weg zur Rüttenscheider Straße erzählen sie dann auch von den Schwierigkeiten, die der Begriff „Heilsarmee“, die Kleidung und die militärischen Bezeichnungen in Deutschland mit sich bringen: „Alles, was die Menschen hier an Krieg erinnert, ist schlecht. Gerade bei Jüngeren, die uns nicht kennen, haben wir dadurch oft Image-Schwierigkeiten“, gesteht Birgit Oesterlen. Das „Heilsarmee-Magazin“ etwa hieß bis 2008 „Kriegsruf“ - entsprechend zwiegespalten war die Resonanz darauf. Sprüche wie „Wer sind die denn?“ oder „Ich hätte auch gern so ein Hütchen“, Fingerzeige und Gekicher werden die Damen auch heute Abend erleben. Dabei sind es zumeist jüngere Menschen, die sich verwundert umdrehen. So wie vorm Irish Pub: „Ich dachte immer die Heilsarmee wäre eine Söldnertruppe“, gesteht ein Mittzwanziger. „Wir müssen in der öffentlichen Wahrnehmung relevanter werden“, sagt deswegen Birgit Oesterlen, die seit einem Jahr hauptamtlich für eine Freikirche im Bereich der Kinder- und Jugendbetreuung in Köln arbeitet.
Vor dem Lorenz teilen sich Annette Belz und Birgit Oesterlen auf. Die erste übernimmt den Innenbereich, letztere geht zu den Gästen an den Tischen draußen. Die Bereitschaft der Menschen, zu geben, ist mager. Nebenan in der Oase haben die beiden mehr Erfolg. „Ich komme aus Hamburg, da ist die Heilsarmee eine Institution“, sagt ein Gast, der sein italienisches Essen gerade beendet hat. „Wir stören die Menschen nie beim Essen und versuchen, so unaufdringlich wie möglich zu sein“, sagt Annette Belz und holt noch schnell ein Kindermalbuch für die Enkelin des Hanseaten heraus.
Nicht überall willkommen
Vor dem PlanB treffen die Frauen Olaf Klett, der sie für ihr Engagement lobt und natürlich auch spendet: „Ich habe einen guten Job und verdiene mein Geld. Davon sollte man ruhig etwas abgeben“, sagt er. Auch im Buon Café hat man Annette Belz schon vermisst: „Da sind sie ja endlich wieder“, sagt Mit-Betreiberin Giuseppa Cassaro und weist Annette Belz freundlich den Weg ins Restaurant.
Damit ist sie keine Seltenheit aber eben auch nicht die Regel: „Einige Gastronomen haben Angst, dass wir ihre Gäste belästigen. Dabei wollen wir nur helfen“, sagt Annette Belz. In einer Zeit, in der der Begriff Nächstenliebe fast antiquiert ist, macht dieser fromme Wunsch selbst zwischen vollgerauchten Kneipen und Betrunkenen ein bisschen Hoffnung.
Diese "Essener Blagen" wurden um 1909 abgelichtet. Foto: IG Rüttenscheid
Das städt. Gymnasium um 1910. Foto: IG Rüttenscheid
Der Claraplatz - heute umbenannt in Rüttenscheider Stern - um 1920. Foto: IG Rüttenscheid
Das Montagsloch - hier sollte eines der größten Stadien Deutschlands entstehen. Es kam jedoch nie über den Rohbau hinaus. Heute haben sich dort, am Rüttenscheider Tor, Hochtief und Eon angesiedelt. Foto: IG Rüttenscheid
Der Rüttenscheider Markt dreieinhalb Jahre nach dem Krieg. Foto: IG Rüttenscheid
Auch hier hatte der Krieg gewütet: Ein Blick von der Dorotheenstraße, links stand das Haus Hindenburg, rechts "Seifendietrich". Foto: IG Rüttenscheid
Auch die Girardet-Druckerei wurde durch Bombenschäden schwer beschädigt. Foto: IG Rüttenscheid
Zum Vergleich - so sah die Druckerei vor dem Krieg aus, um 1910. Foto: IG Rüttenscheid
Stehaufmännchen - das Gebäude lag noch in Schutt und Asche, als die Ampütte schon wieder öffnete - schon damals auch zur nachtschlafenden Zeit. Foto: IG Rüttenscheid
Diese Aufnahme zeigt Rüttenscheid in den Dreißigern von oben. Foto: IG Rüttenscheid
Ein Luftbild von 1957 zeigt noch den alten Güterbahnhof. Foto: IG Rüttenscheid
Das Essener Justizgebäude um 1920. Mit seinem Bau wurde 1908 begonnen. Foto: IG Rüttenscheid
Die Sommerblumenterrassen im Jahr 1929. Foto: IG Rüttenscheid
Die Ansichtskarte zeigt den Grugaturm zur Reichsgartenschau 1938. Foto: IG Rüttenscheid
Die Isabellastraße um 1928. Foto: IG Rüttenscheid
Die Irmgardstraße 1920, seit 1937 in Von-Seeckt-Straße umbenannt. Foto: IG Rüttenscheid
Die bekannteste Meile - die Rüttenscheider Straße, Ecke Witteringstraße, in den Zwanzigern. Foto: IG Rüttenscheid
Dieses Bild der Rü entstand um 1900. In dem Eckgebäude ist heute die Brunnenapotheke. Foto: IG Rüttenscheid
Aus dem Kruppschen Erholungsheim entwickelten sich... Foto: IG Rüttenscheid
...die Kruppschen Krankenanstalten an der Wittekindstraße. Foto: IG Rüttenscheid
Ein undatiertes historisches Foto der Siechenkapelle. Foto: IG Rüttenscheid
Wo heute das "Rü Kontor" steht, wurde um 1923 die neue Rüttenscheider Brücke gebaut. Foto: IG Rüttenscheid
Der Rüttenscheider Stern 1914. Foto: IG Rüttenscheid
Das Rüttenscheider Rathaus, wo heute die Sparkasse untergebracht ist. Foto: IG Rüttenscheid
Die Richard-Wagner-Straße 1913. Foto: IG Rüttenscheid
Die alte ev. Reformationskirche um 1912, rechts ist das mit Rathaus zu erkennen. Foto: IG Rüttenscheid
Der Prater war von 1926 bis 1930 ein ständiger Vergnügungspark im Winkel der Norbert-und Lührmannstraße, u.a. mit Achterbahn, Zillertal und Hippodrom. Foto: IG Rüttenscheid
Am 25. Oktober 1955 wurde die Grugahalle offiziell eröffnet. Foto: IG Rüttenscheid
Die Grugahalle 1959. Foto: IG Rüttenscheid
Nach dem Deutschen Turnfest 1963 konnte die Zahl der aktiven Sportler in Essener Vereinen um 5000 Mitglieder gesteigert werden. Foto: IG Rüttenscheid
Bis in die 80er Jahre lag das Straßenbahndepot... Foto: IG Rüttenscheid
...am alten Alfredusbad, an das heute nur noch der Haltestellen-Name erinnert. Foto: IG Rüttenscheid
Der Erzhof - heute Evag-Hauptverwaltung, an Zweigertstraße. Foto: IG Rüttenscheid
Ein Geschäft im Dohmannskamp, im Jahr 1913. Foto: IG Rüttenscheid
Der alte Florabrunnen stand in etwa an der Stelle des jetzigen, der 2007 renoviert und reaktiviert wurde. Foto: IG Rüttenscheid
Hier hat sich in all den Jahren kaum etwas veändert - die Gaststätte Brenner gibt es immer noch, sie gehört zu den ältesten in Essen. Foto: IG Rüttenscheid
Die Bertholdstraße im Jahr 1916. Foto: IG Rüttenscheid
Die Kath. Kirche St. Ludgerus im Jahr 1908. Foto: IG Rüttenscheid
Es folgen Aufnahmen aus dem Wandkalender "Rüttenscheid im Wandel" der IGR (2014). hier Messe/Grugapark: Eine ungewohnte Luft-Ansicht aus dem Jahr 1929 zeigt die Anfänge der 1913 eröffneten Messe: Hinter dem Hauptportal und Ehrenhof, wo sich heute der Parkplatz P1 befindet, liegt die 1927 von Josef Rings als Mehrzweckhalle konzipierte, 98 Meter lange Halle fünf. Sie soll bereits 1958 wieder weichen – auf ihren Fundamenten wird die Grugahalle erbaut, die Architekturgeschichte schreiben soll. Ferner zeigt die historische Aufnahme links ein katholisches Kloster und die Polizeikaserne. Schöne Anekdote am Rande: 1929 hinterlässt die Große Ruhrländische Gartenbauausstellung den als Gruga bekannten Park – seine Ursprünge gehen damit auf eine Veranstaltung der Messe zurück, was man heute fast als Ironie bezeichnen könnte. Foto: IGR
Glückaufhaus und Filmstudio: Kaum ein anderes Gebäude hat eine solch wechselvolle Geschichte hinter sich: 1922/23 erbaut, war das Glückaufhaus im Dritten Reich Sitz der Gauleitung. Schließlich diente es bis 1999 dem Gesamtverband des Steinkohlebergbaus als Hauptverwaltungssitz. Nach langem Leerstand und Umbau unter Beibehaltung der denkmalgeschützten Fassade wird es seit 2009 als Bürogebäude genutzt. Foto: IGR
Das Motiv für den Monat Januar ist 1924 mit dem Blick in Richtung Innenstadt aufgenommen worden. Es zeigt links die ehemalige Gaststätte Jägerhof, später Haus Haller, und rechts Gebäudeteile der Großdruckerei von Wilhelm Girardet. Das Bild verdeutlicht den Strukturwandel, den Rüttenscheid gut 90 Jahre später vollzogen hat. Wo früher an schweren Druckmaschinen körperlich hart gearbeitet wurde... Foto: IGR
Gaststätte Eickenscheidt: 1907 fand hier, an der Ecke Matinstraße, der erste Parteitag der SPD im Ruhrgebiet hier statt. Später wurde das Gebäude als Haus Maas bekannt. Foto: IGR
Sie haben vermutlich einen Ad-Blocker aktiviert. Aus diesem Grund können die Funktionen des Podcast-Players eingeschränkt sein. Bitte deaktivieren Sie den Ad-Blocker,
um den Podcast hören zu können.