Essen-Rüttenscheid. . Zum ersten Mal ist die Gentrifizierung in Rüttenscheid Thema einer Masterarbeit. Ergebnis: das Viertel ist teurer, hipper und jünger geworden.

„Schicki-Micki-Pflaster“, „versnobte Rü“, „Meile für Selbstdarsteller“: Die Antworten auf die Frage, ob Rüttenscheid ein Szeneviertel ist, fielen mitunter recht oberflächlich aus. Gestellt hat die Frage der Wirtschaftswissenschafts-Student Christian Kümmerlein im Rahmen seiner Masterarbeit. Der 29-Jährige ist der erste, der sich wissenschaftlich mit dem Phänomen der Gentrifizierung in Rüttenscheid auseinander gesetzt hat.

Mit dem Fachbegriff wird der Prozess der Aufwertung in innenstadtnahen Wohnviertel bezeichnet. Prominentes deutsches Beispiel ist der Berliner Bezirk Prenzlauer Berg: Sanierte Altbauten, hohe Mieten, immer mehr Bio-Supermärkte, die von jungen Gutverdienern besucht werden: All das sind Indikatoren für die Gentrifizierung, die die „Ur-Bewohner“ oft verdrängt – weil sie sich das Leben in ihrem Stadtteil nicht mehr leisten können. Doch trifft all das auch für Rüttenscheid zu?

Struktur verändert sich kaum

Christian Kümmerlein
Christian Kümmerlein © Privat

„Es gibt auch in Rüttenscheid Inseln, auf denen man von Gentrifizierung sprechen kann. „Die geplanten Neubauten an der Gummert- und Köndgenstraße etwa sind Beispiele dafür, das alte Mieter verdrängt werden und Besserverdiener einziehen“, sagt Kümmerlein: „Insgesamt aber zeichnet sich der Stadtteil noch immer durch eine gesunde Mischung aus. Die Veränderungen wiegen nicht so schwer, dass sich der ganze Stadtteil in seiner Struktur verändert“, schlussfolgert Christian Kümmerlein in seiner 93-seitigen Arbeit. Insgesamt habe Rüttenscheid schon immer zu den bevorzugten Wohnvierteln in Essen gehört. Hier werde also nicht – wie etwa in Berlin – ein Wandel vom „Arbeiter- zum Nobelviertel“ vollzogen, sagt Kümmerlein, der selbst seit zehn Jahren in Rüttenscheid lebt und die positiven Veränderungen somit hautnah erlebt.

Bauliche Aufwertung

Rüttenscheid wird als Szeneviertel wahrgenommen

Über die Facebook-Seite der IG Rüttenscheid startete Christian Kümmerlein im Juli die Umfrage, ob Rüttenscheid ein Szeneviertel ist. Daran beteiligten sich 742 Nutzer: 83 Prozent beantworteten die Frage mit Ja.

Der Wirtschaftswissenschaftsstudent sieht mehrere Gründe: „Neben der Gastronomie sind es auch Veranstaltungen wie die Gourmetmeile und die Tour de Rü, die das Image als Szene-Stadtteil festigen.“

Das sei aber nicht neu, wie Kümmerlein verdeutlicht: „Ein Blick in die Historie zeigt, dass die Rü seit jeher ein Anziehungspunkt für Gastronomie und Einzelhandel war. Um 1870 herum nahmen die ersten Dienstleister und Gastwirte ihren Betrieb auf.“

Insgesamt habe es in dem vergangenen Jahrzehnt viele Aufwertungen gegeben: Der Neubau von „RÜ 62“ am Stern beispielsweise, der den zweckmäßigen, grauen Karstadt-Bau ersetzte. Oder die Belebung des Christinenparks, der als ehemaliger Friedhof lange zu den Dreckecken des Stadtteils gehörte und heute durch die Außengastronomie und einen Kinderspielplatz belebt wird. Positiv zu sehen sei auch die Ansiedlung des Bio-Supermarkts an der Ecke Christophstraße, wo bis vor wenigen Jahren ein Aldi-Markt war. „Auch das ist wieder ein Beispiel, dass es durchaus Anzeichen von Gentrifizierung in Rüttenscheid gibt“, erklärt Christian Kümmerlein. Die meisten Geschäftswechsel entlang der Rüttenscheider Straße hätten diese zum Besseren verändert, ist Kümmerlein überzeugt.

Mehr und jüngere Bewohner

Während die Bevölkerung in Rüttenscheid in den Jahren zwischen 1987 und 2005 laufend abnahm, wendete sich der Trend vor 13 Jahren: Mit einem Anstieg von 4,39 Prozent auf aktuell 28.969 Einwohner gehört Rüttenscheid zu den am stärksten wachsenden Stadtteilen in Essen. „Ein Indiz für Gentrifizierung ist die jüngere Altersstruktur: Auch das trifft für Rüttenscheid zu. Rund ein Fünftel der Menschen, die hier leben sind zwischen 25 und 35 Jahre alt – der Durchschnittswert in Essen liegt bei 14,4 Prozent.“ Spannend auch: In Rüttenscheid leben überdurchschnittlich viele Kleinkinder bis drei Jahren, ältere Kinder gibt es weniger: „Hieraus kann vermutet werden, dass Rüttenscheid in der Familiengründung noch als attraktiver Standort wahrgenommen wird. Werden die Kinder älter, bevorzugen Familien dann aber andere Stadtteile“, so Kümmerlein in seiner Arbeit.

Zunahme von Gastronomie

Die Zunahme von Gastronomie gilt ebenfalls als Indiz für Gentrifizierung. „Auf der Rüttenscheider Straße trifft dies nur für den Kern-Bereich zwischen dem Stern und der Girardetstraße besonder zu: Dort hat sich die Anzahl der Cafés und Restaurants in den letzten zehn Jahren sogar verdoppelt“, hat Kümmerlein beobachtet. Als Beispiel führt er das Szene-Café Miamamia an, das die frühere Parfümerie Mikus ersetzt hat. Grundsätzlich habe sich die Struktur der Rüttenscheider Straße seit dem letzten Jahrhundert aber nicht verändert, von Gentrifizierung könne also nicht gesprochen werden, so Kümmerlein.

Eigentum 40 Prozent teurer

Weil es für die steigenden Mieten nach Angabe Kümmerleins keine validen Daten gibt, hat er sich auf die Preise für Eigentum konzentriert: Die haben es in sich: So hat Kümmerlein zwischen 2010 und 2017 eine Preissteigerung von 40,6 Prozent ausgemacht. Bereits seit fünf Jahren hebe sich die Preisentwicklung für Immobilien in Rüttenscheid deutlich von der in Essen ab.