Essen-Rüttenscheid.. Alexander Schmidt vom Institut für Stadtplanung der Uni Duisburg-Essen beurteilt den Wandel in Rüttenscheid „grundsätzlich positiv“.
Kein anderes Quartier im Ruhrgebiet wandelt sich städtebaulich so rasant wie Rüttenscheid: Das zeigen Großprojekte auf der Festwiese, die neue Zentrale der Stadtwerke und der Neubau „Rü 62“ am Stern ebenso wie Wohnprojekte an der Veronikastraße. Angesichts der geplanten Investitionen, durch die bis zu 1000 neue Wohnungen entstehen sollen, sprachen wir mit Alexander Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtplanung und Städtebau an der Uni Duisburg-Essen.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Rüttenscheid aus städteplanerischer Sicht?
Alexander Schmidt: Im Grunde ist diese Entwicklung ein Spiegel von gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Trends in der Gesellschaft, was zunächst einmal positiv zu bewerten ist. Rüttenscheid ist unglaublich dynamisch geworden und hat in den vergangenen Jahren zum einen die kreative junge Klientel angezogen, lockt mit seinem hochwertigen Einzelhandel aber auch einkommensstarke Kunden an, die den Umsatz bringen. Diese Aufwertung ist erstaunlich und in ihrer Art und Weise im Ruhrgebiet zurzeit sicherlich einzigartig.
Viele Menschen befürchten, Rüttenscheid werde gentrifiziert, einkommensschwächere Bewohner also nach und nach verdrängt.
Schmidt: Gentrifizierung ist leider mittlerweile ein negativ belegtes Wort – dabei muss sich eine Stadt immer erneuern und Gebäude müssen saniert werden. Die Frage, ist allerdings, zu welchem Preis das passiert. Mitunter werden auch in Rüttenscheid Altbauten modernisiert und zu horrenden Preisen verkauft; da wird aus dem Stadtteil Kapital geschlagen. Ich teile aber nicht die Befürchtung, dass sich an der grundsätzlichen Struktur in Rüttenscheid etwas verändert. Im Gegensatz zum Prenzlauer Berg in Berlin etwa, der oft als Paradebeispiel für Gentrifizierung herangezogen wird, ist Rüttenscheid von für die Arbeiterschicht typischen kleinen Wohnungen geprägt. Penthäuser oder Lofts lassen sich in den meisten Altbaubeständen schon baulich gar nicht realisieren.
Dafür sollen ja auch bis zu 1000 neue Wohnungen entstehen. Was macht eine solche Entwicklung mit einem Quartier?
Schmidt: Zunächst einmal entstehen all diese Neubauten ja nicht über Nacht. Will heißen: Die Entwicklung ist anders als etwa in Altendorf nicht als ein Großprojekt aufgesetzt worden, sondern entsteht aus sich heraus. Darüber hinaus sind es etwa mit der ehemaligen Pädagogischen Hochschule eher die Randbereiche, die neu bebaut werden. Für eine Stadt wie Essen, die ohnehin händeringend neuen Wohnraum sucht, ist eine solche Entwicklung zu begrüßen. Der zurzeit zu beobachtende Boom ist auch ein Stück weit natürliche Stadtentwicklung, weil Rüttenscheid entdeckt worden ist.
Können Sie sich erklären, was der Auslöser dafür war?
Schmidt: Rüttenscheid hatte schon immer lebenswerte Eigenschaften. Allerdings ist die Aufenthaltsqualität im Vergleich zu früher noch einmal gestiegen. Wir haben Rüttenscheid in einer Studie mal eine gute „Walk-
ability“ zugesprochen. Das bedeutet, dass die Fußwege meist kurz sind und es dort eine Menge zu entdecken gibt – keine riesigen Schaufensterfronten wie in der Innenstadt, sondern kleinere, aber qualitativ gute Läden. In Seitenstraßen wie der Annastraße etwa hat sich viel Kleingewerbe angesiedelt. Diese Vielfalt macht den Charakter aus. An diesen Stellen sollte man dafür kämpfen, diesen Mix zu erhalten.
Welche Steuerungselemente gibt es überhaupt, die Stadtteil-Entwicklung auf politischer oder bürgerlicher Ebene zu begleiten?
Schmidt: In erster Linie sind es Bürger, die mit ihrem Engagement die Entwicklungen in der Nachbarschaft beeinflussen und sich für den Erhalt des Charakters ihres Viertels einsetzen können. Politisch und stadtplanerisch ist eine Einflussnahme schwierig. Wenn ich mich allerdings mit mehreren interessierten Bürgern an einen Tisch setze, kann ich eine zu berücksichtigende Mehrheit schaffen, die gehört wird. Solche Initiativen sind im Ruhrgebiet leider selten.
Viele Neubauten mit Strahlkraft für die gesamte Stadt
Bereits seit 2009 ist der enorme städtebauliche Wandel zu beobachten, wie diese lose Auflistung der wohl wichtigsten Neubauprojekte der Vergangenheit zeigt:
Das Glückaufhaus im Südviertel wurde 2009 nach umfassender Sanierung neu eröffnet. Dort zog das Unternehmen Ifm ein, außerdem wurde das Filmstudio Glückauf neu belebt.
Von seiner Strahlkraft her das wohl wichtigste Gebäude wurde pünktlich zum Kulturhauptstadt-Jahr 2010 eröffnet: Das von Star-Architekt David Chipperfield entworfene Museum Folkwang, das 55 Millionen Euro kostete.
Die Stadtwerke bezogen 2010 ihren Neubau an der Rüttenscheider Straße/Ecke Baumstraße. Kostenpunkt: 30 Millionen Euro.
Vier-Sterne-Hotel eröffnet
Auch die Hopf-Gruppe bezog im Jahr 2010 ihr mit dem ersten Preis des nationalen Architektenwettbewerbs ausgezeichnetes Gebäude „Rue 199“ an der Rüttenscheider Brücke. Dort wurden 20 Millionen Euro investiert.
Im gleichen Jahr packten auch die Eon-Mitarbeiter ihre Umzugskartons: Der Bau der neuen Unternehmenszentrale des Energieriesen auf der ehemaligen Festwiese kostete rund 200 Millionen Euro. Auf dem letzten verbliebenen Grundstück baut der Essener Projektentwickler Kölbl Kruse nun das Bürogebäude Silberkuhlsturm, wo unter anderem der Energiedienstleister Ista einziehen wird.
Mit dem Atlantic Congress Hotel öffnete 2010 in direkter Nähe zur Messe ein neues Vier-Sterne-Hotel, das heute mitunter die Spieler des FC Bayern beherbergt. Der Bau kostete 30 Millionen Euro.
Mit dem Abriss des ehemaligen Karstadt/Hertie-Hauses direkt am Rüttenscheider Stern wurde Platz für das Büro- und Geschäftshaus „Rü 62“ gemacht, das 2012 eröffnete. 50 Millionen Euro nahmen die Investoren Kölbl Kruse und Brockhoff dafür in die Hand.