Essen. . Beim integrativen Theaterprojekt vom Verein „Integrationsmodell Essen“ spielen Handicaps die Hauptrolle. Was passiert, wenn sich vier Musiker, eine Schlagzeugerin und zwölf höchst individuelle Menschen in Begleitung von zwei professionellen Theatermacherinnen auf den Weg begeben – das wollen sie auf die Bühne bringen.

„Zack, Zack, Zack, Zack“, treibt Thomas Köhler, den alle nur Ötzi nennen, drei Personen vor sich her. Alle mit Handicap. Im Hintergrund verstärkt ein lautes Klackern die Vehemenz seiner Worte. „Wir sind nicht im Altersheim. Schneller, aber zacki!“, brüllt Ötzi mit finsterer Mine über die Bühne des evangelischen Gemeindezentrum Billebrinkhöhe. Die Situation wirkt angespannt, fast bedrohlich. In einer anderen Ecke der Bühne bricht ein Streit aus. „Wir müssen in die Stadt“, will Benni (Benjamin Seddig), der im Rollstuhl sitzt, Alice Indahl klar machen.

Sie interessiert’s nicht; sie bleibe wo sie ist. „Immer das gleiche“, beklagt er. Dann werden beide stumm, ihre Mimik und Gestik sprechen weiter für sich. Das Klackern wird lauter und schneller, die Situ­ati­on immer angespannter. „So ist das Leben“, seufzt Magdalene Merkel. „Und wir sind die Behinderten“, entgegnet ihr Benni. Plötzlich werden alle still, das Klackern hört auf. Das Licht schwenkt auf Herbert Peter, der langsam über das Parkett robbt: „Ich komm’ nicht durch. Ich komm’ einfach nicht vorwärts. Ich komm’ nicht von der Stelle. Ich bin ein Krüppel, nur geduldet.“ Er bleibt alleine zurück. Ein Film wird eingespielt, mit Szenen aus Herberts Leben, aus seinem Zuhause. Wo er keine Hilfe braucht, wo er selbstständig ist. Und kein Behinderter.

Was sich auf der Bühne in Bergerhausen abspielt, ist eine Probe der neu gegründeten integrativen Theatergruppe des „In­te­grationsmodell Essen“, zu dem auch eine Band zählt. Was passiert, wenn sich vier Musiker, eine Schlagzeugerin und zwölf höchst individuelle Menschen zwischen 20 und 60 Jahren in Begleitung von zwei professionellen Theatermacherinnen auf den Weg begeben, um mit dem Blick des Herzens auf das eigene Leben zu schauen – das wollen sie auf die Bühne bringen. Mit vielen Szenen aus ihren Leben – über Schmerz, Freude, Liebe, Zorn und den Tod. Eine Vielzahl an Geschichten, Leidenschaften und Erfahrungen, stecken in ihrem Stück, das den schönen Titel „Herzlauschen“ trägt.

Die Theaterpädagoginnen Erika Römer und Sigrid Noveski ( v. r.) Foto: Kerstin Kokoska
Die Theaterpädagoginnen Erika Römer und Sigrid Noveski ( v. r.) Foto: Kerstin Kokoska © WAZ FotoPool

Obgleich er ein Handicap besitzt – selbst behindert zu sein, dagegen wehrt sich Ötzi lautstark. Ihm passt die Formulierung nicht. „Es gibt keine Behinderten“, sagt er. Diesen Begriff wolle er nicht in der Zeitung lesen. Es reiche, wenn er ihn ständig hören müsse. Auch für Magdalene Merkel, die sich als „organisatorischen Kitt“ der Gruppe bezeichnet, ist der Begriff nicht mehr zeitgemäß. Ein Rollstuhl sei schließlich kein Hindernis – nicht auf der Bühne. Das Projekt, gefördert durch das städtische Kulturbüro und die „Aktion Mensch“ entspricht dem über Jahre gewachsenen Wunsch der Beteiligten nach langfristiger integrativer Theaterarbeit. Es will aktive Teilhabe an kultureller Arbeit eröffnen, ist inklusiv, schließt Menschen mit Handicaps, ob schweren oder mehrfachen, geistig oder körperlich, ein. Sie müssen am Theaterprojekt teilnehmen dürfen, wie sie sind. Ihr persönliches Profil soll auf der Bühne zur Geltung kommen.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, sagt etwa der „Kleine Prinz“ im gleichnamigen Buch von Saint-Exupéry – ein Zitat, das sich alle Mitwirkenden zu Herzen nehmen, um das Unsichtbare, das so wesentlich ist, für den Zuschauer spürbar und erfahrbar zu machen. „Es geht darum, ungeschminkt, ehrlich, poetisch, verspielt und romantisch Herzen zu öffnen“, sagt Merkel. Wer die Gruppe aus Menschen mit und ohne Handicap spielen und improvisieren sieht, und wie sie auf ihre Mitspieler, ihre Fähig- und Fertigkeiten eingehen, merkt: Krüppel, gibt es hier nicht. Hier ist jeder erwünscht, keiner nur geduldet.

„Theaterspielen macht mir Spaß, es ist mein Hobby“, sagt Barbara Rosenbach. Bei der Premiere wird sie zu ihrem Lieblingslied tanzen. „Stress“ spielt in ihrem Leben eine Rolle, wie bei den anderen. Stress, den die Gesellschaft ihnen gegenüber aufbaut. „Wir sind oft die Getriebenen“, beklagt Benjamin Seddig. Auf der Bühne trägt Arnhild Eckhard Gedichte vor. Doch Malen ist ihre große Leidenschaft. Für das Bühnenbild sollen einige ihrer Werke abfotografiert werden. „Wir sind alle kreativ und das bis in die Fingerspitzen“, sagt Eckhard. Das Theaterstück soll zum Nachdenken anregen, „über das eigene Leben, die Situation von Menschen mit Handicap, über Wertschätzung, Offenheit und eine Begegnung auf Augenhöhe“, betont Magdalene Merkel. Premiere feiert es im November.

Premiere im „Pina Bausch Theater“

Premiere feiert das Stück „Herzlauschen“ am Freitag, 2. November, um 19.30 Uhr im „Pina Bausch Theater“ der Folkwang Universität der Künste am Klemensborn 39 in Werden. Weitere Aufführungen sind am Samstag, 10. November, in der „RÜ-Bühne“ im Girardet-Haus, Girardetstraße 2-38 in Rüttenscheid (Uhrzeit ist noch offen), am Donnerstag und Freitag, 29. und 30. November, jeweils um 19 Uhr im Katakomben-Theater, ebenfalls im Girardet Haus. Der Eintritt kostet jeweils zehn Euro, ermäßigt fünf Euro. Karten gibt es - Karten gibt es über die jeweiligen Veranstaltungsorte.