Essen. Die Rüttenscheider Straße ist keine reine Kneipenmeile, aber auch keine reine Geschäftsstraße, sie ist keine Filialisten-Wüste und auch keine jener Fußgängerzonen, die so vielen Stadt- und Stadtteilzentren erst bräsige Langeweile, dann den Tod durch Wegzug, Geschäftsaufgaben und Banalisierung beschert haben. Die Mischung der Straße ist das eigentlich Interessante: Sie ist einzigartig in Essen.
Es soll Fremde gegeben haben, die viel Gutes von der sagenhaften Rüttenscheider Straße gehört hatten und dann zunächst etwas enttäuscht sind, wenn sie dann erstmals durchgehen. Ja, es ist richtig: Architektonisch ist die Rüttenscheider trotz einiger interessanter Neubauten vor allem dies: Eine stinknormale 50er-Jahre-Straße, wie es sie so oder ähnlich oft gibt, weder repräsentativ noch gar mondän. Eingebürgert hat sich seit langem die neckische Abkürzung „Rü“, mit der man sich ursprünglich an die „Kö“, die Königsallee in Düsseldorf, anlehnen wollte. Das weckt allerdings falsche Assoziationen. Seit dieser Zeit hält sich jedenfalls außerhalb Rüttenscheids hartnäckig der Spott, der Rüttenscheider sei eigentlich noch peinlicher als der Düsseldorfer, weil er diesen zu imitieren versuche.
Natürlich muss das an dieser Stelle mit Abscheu und Entsetzen dementiert werden. Die Rüttenscheider sind Essener durch und durch, und die Rüttenscheider Straße ist etwas ganz eigenes, nämlich der erfolgreiche Versuch, aus einer ziemlich bescheidenen Substanz Erstaunliches zu machen. Oft gesagt, aber es stimmt: Die Mischung ist das eigentlich Interessante, sie ist einzigartig in Essen, und auch woanders gibt’s nicht allzu viele gute Beispiele dieser Art. Die Rüttenscheider Straße ist keine reine Kneipenmeile, aber auch keine reine Geschäftsstraße, sie ist keine Filialisten-Wüste und auch keine jener Fußgängerzonen, die so vielen Stadt- und Stadtteilzentren erst bräsige Langeweile, dann den Tod durch Wegzug, Geschäftsaufgaben und Banalisierung beschert haben. Diese Gefahr droht derzeit nicht, auch wenn einige Unbelehrbare weiter davon träumen.
An guten Tagen ist es schön zu sehen, wie alle miteinander auskommen
Auf der Rüttenscheider kann man an guten Tagen studieren, wie angenehm es ist, wenn sich in einer Stadt alle anstrengen miteinander auszukommen. SUV-Piloten und Fahrradfahrer, Kaffeehaus-Literaten und alternde Strizzis, Einheimische mit vollen Einkaufstüten und Auswärtige mit backsteindicken Messe-Katalogen, Senioren auf dem Weg zur Kirche und Junioren auf dem späten Rückweg von der Party, Leute, die ihren Latte macchiato auch bei drei Grad draußen trinken und Frier-Hippen, die das affig finden. Das Miteinander klappt nicht immer, aber viel öfter als es Miesmacher wahrhaben wollen, die was „politisch gestalten“ wollen.
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Das ideelle Herz der Straße ist neben der wunderschönen Kirschbaum-Parade eine kleine Kirche: Die Siechenhauskapelle gehörte zu einem längst verschwundenen Siechenhaus, wo seit dem frühen 15. Jahrhundert weit vor den Toren der Stadt Essen auf quasi freiem Feld Aussätzige Aufnahme fanden. Widerborstig steht das Kirchlein quer zur Straßenflucht, ordnet sich nicht ein in die Häuserfront zur einen Seite und bildet auch einen denkbar großen Kontrast zum Quaderbau des Arosa-Hotels, der übrigens viel interessanter ist als man spontan vielleicht meint.
Die Rüttenscheider Straße ist der lebendige Beweis, dass das Fehlen von Fassaden-Schönheit noch lange kein Grund ist zum Resignieren. „Und richtige Bausünden gibt’s ja nicht“, sagt Rolf Krane, der als Vorsitzender der Interessengemeinschaft Rüttenscheid vielleicht nicht völlig objektiv ist. Aber wenn es sie doch geben sollte, sind sie eben Teil der Rüttenscheider Vielfalt. Fertig.
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