Essen. . Eine zweifache Mutter aus Essen ist eine von fast drei Millionen Multijobbern in Deutschland. Die 43-Jährige hält sich mit vier Jobs über Wasser. Verreist ist sie erst ein einziges Mal. Doch sie will sich nicht geschlagen geben: „Nur nicht noch mal vom Amt leben. Ich bin kein Schmarotzer“, sagt sie.

Es gibt Arbeitstage im Leben der Sonja Klaus*, die beginnen um 4.30 Uhr und enden abends um acht. Dann sackt sie erschöpft auf ihr Sofa, unfähig sich noch zu rühren. Ihre Knie sind geschwollen, der Rücken schmerzt. Vom Medikamente sortieren in der ersten Schicht, vom Putzen in der zweiten. Zum Überleben jedoch reicht auch das noch nicht. Mit vier Jobs hält sich die 43-Jährige über Wasser. Sie ist eine von bald drei Millionen Multi-Jobbern in Deutschland.

Waren es vor zehn Jahren gerade einmal 1,15 Millionen Menschen, die mit dem Verdienst von einem Arbeitsplatz allein nicht zurechtkamen, sind es nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit inzwischen bundesweit 2,7 Millionen.

„Viele von ihnen finden keine Vollzeitstellen und müssen sich durch weitere Jobs absichern“, erklärt Matthias Günther. Er ist Geschäftsführer des Hannoveraner Pestel-Instituts, das vergangenes Jahr eine Studie über so genannte Aufstocker erstellt hat.

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Vier Jobs und knapp 700 Euro zum Leben, so sieht die Realität der Essenerin Sonja Klaus aus. In ihrem Erstjob geht sie täglich, von montags bis freitags, auf Steuerkarte putzen. Der Zweitjob ist einer auf 450-Euro-Basis, da packt sie Medikamente-Boxen für einen Apotheken-Lieferdienst, und im Dritt- und Viertjob kümmert sie sich um Ulla und Wolfgang. Ulla, die ältere Dame, deren Wirbelsäule versteift ist und Wolfgang, der im Rollstuhl sitzt.

Am Samstag gehört Sonja Klaus, immer im Wechsel, ihnen. Putzen, aufräumen, Wäsche waschen. Ullas Haare färben oder dabei sein, wenn Wolfgang Besuch bekommt vom Medizinischen Dienst. Dieses Geld verdient sie schwarz, natürlich.

Mit 16 zum ersten Mal schwanger

Auch der Aufwand, den Sonja Klaus betreibt, ihre vier Jobs unter einen Hut zu bekommen, ist groß. Allein die täglichen Anfahrten von ihrer Wohnung am Rande Essens quer durch die Stadt, von einem Arbeitsplatz zum nächsten und wieder nach Hause. „Seit ein paar Wochen ist mein Motorroller kaputt. Eine Reparatur kann ich mir nicht leisten. Das Monatsticket für die Bahn kostet 65 Euro, die Wege sind lang“, sagt die Mutter zweier Söhne.

Ein mühseliges Leben ist das. Eines, das schon so begonnen hat. Sonja Klaus war 16, als sie zum ersten Mal schwanger wurde. Mit 17 zog sie bei den Eltern aus, und als sie 18 war, wurde ihr zweiter Sohn geboren. Als alleinerziehende Mutter bezog sie Sozialhilfe, ging außerdem früh morgens putzen, vor dem Schulbeginn der Kinder. Und sie machte Fehler. Bestellte Kinderkleidung und Spielzeug per Katalog auf Raten, verschuldete sich. Auf über 3000 Euro schraubten sich die Schulden hoch. Sonja Klaus bezahlt noch heute daran ab.

Erst einmal im Leben verreist 

Inzwischen ist sie verheiratet, mit einem Fernfahrer. Von dessen Verdienst allein, von 1400 Euro, könnten sie nicht leben. Auch wenn ihre kleine Zweizimmerwohnung mit allen Nebenkosten 550 Euro kostet. Schließlich ist ihr Mann die ganze Woche auf Tour, muss sich unterwegs versorgen. Zudem schleppt auch er noch Schulden aus früheren Jahren mit sich. „Es gibt inzwischen viele Haushalte, in denen ein Job nicht zum Leben reicht. Die strampeln sich ab, um nicht in Hartz IV zu rutschen“, sagt Dorothea Voss von der Hans-Böckler-Stiftung.

Ihr Körper zeigt längst Verschleiß-Erscheinungen, doch Sonja Klaus mag sich nicht geschlagen geben. „Nur nicht noch mal vom Amt leben. Ich bin kein Schmarotzer“, sagt sie. Gerade versucht sie, einen Lkw-Führerschein zu machen, um Gefahrengut transportieren zu können. Der Arbeitgeber ihres Mannes zahlt das größtenteils, sie musste sich im Gegenzug verpflichten, mindestens fünf Jahre für ihn zu fahren.

Neue Hoffnung. Wenn sie es doch bloß schaffte! Nach langen Arbeitstagen geht nichts mehr hinein in ihren Kopf. Aber schon einmal, mit 30, hat sie noch eine Ausbildung abgeschlossen. Lernte Hauswirtschafterin, legte eine Prüfung ab. „Eine Stelle hab’ ich aber nicht gefunden. Die wollten mich nur als Gehilfin bezahlen, das hätte nicht gereicht“, sagt sie. So ging sie wieder putzen.

Ein Flugzeug hat sie noch nie von innen gesehen

Lastwagen fahren, das wäre es für sie. Selten, wenn sie frei hatte, begleitete sie ihren Mann. „Ich saß auf dem Beifahrersitz und hab einfach nur in die Gegend geguckt. Schön war das!“, erzählt sie. Schön, auch weil sie zum ersten Mal über die französische Grenze fuhr. „Bis kurz vor Paris!“, erzählt sie.

Sonja Klaus ist erst einmal in ihrem Leben verreist. Nach Nordfriesland, wo die Schwiegereltern wohnen. Elf Tage. Auf dem Deich sitzen, sich den Wind durchs Haar pusten lassen. Seitdem bestückt sie ihre Wohnung mit allem, was an Meer erinnert. Muscheln rasseln aufgefädelt in Türrahmen, Leuchttürme strahlen in mediterranem Blau-Weiß. „Ein Flugzeug“, sagt sie, „habe ich nie von innen gesehen“.

* Name geändert