Essen. Professor Wilfried Breyvogel, einer der Initiatoren des Bürgerentscheids, über die für ihn überschätzte Bedeutung der Messe und professorale Blauäugigkeit, über politisches Kratzen an der Oberfläche und den Umgang mit seinem neuen Image als Polit-Hooligan.
Professor Wilfried Breyvogel, einer der Initiatoren des Bürgerentscheids, über die für ihn überschätzte Bedeutung der Messe und professorale Blauäugigkeit, über politisches Kratzen an der Oberfläche und den Umgang mit seinem neuen Image als Polit-Hooligan. Das Gespräch mit Professor Wilfried Breyvogel führte Wolfgang Kintscher.
Herr Professor Breyvogel, Hand aufs Herz: Bei wie vielen Omas haben Sie am Ärmel gezupft, damit die Ihr Bürgerbegehren unterschreiben?
Wilfried Breyvogel: (lacht) Ich weiß, das hat uns Messe-Chef Galinnis unterstellt – in der Sache sehr schief. Aber geschenkt…
Wobei er in einer Hinsicht Recht hat: Gut 16.000 gültige Unterschriften, das war nicht unbedingt eine beeindruckende Zahl. Enttäuscht?
Breyvogel: Nein, wir kannten die schwierigen Bedingungen. Der Start lag in den Sommerferien, und danach kam der Bundestags-Wahlkampf, der uns Kräfte weggenommen hat.
Dabei dachten Sie, man könnte beides geschickt verbinden...
Breyvogel: Stimmt, aber das funktionierte überhaupt nicht. Deshalb haben wir die ganze Sache erst nach dem 22. September in eine organisierte Form gebracht. Mit errechneten Erfolgsquoten à la: Wie viele Unterschriften müssen rumkommen, wenn drei Helfer vier Stunden sammeln gehen.
Es hat funktioniert, nun kommt es am Sonntag zum Bürgerentscheid. Sie drehen damit ein ziemlich großes Rad in der Stadtgesellschaft.
Breyvogel: Was mir in diesem Ausmaß anfangs so gar nicht bewusst war, wenn auch nicht vollkommen fremd: In der Auseinandersetzung um die Lichtburg, Mitte der 1990er, stand ich als Vorsitzender des Kulturbeirats in einem ähnlichen Konflikt.
Sie sind von Haus aus Sozialgeschichtler, haben unter anderem über die jugendliche „Lust auf Randale“ geforscht. Was treibt so jemanden in diesen Messe-Streit?
Breyvogel: Die Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit der Stadt seit den 1980er Jahren: Erst bei der Kreuzeskirche, dann beim Kennedyhaus. Sogar das Grillo-Theater stand eine Zeit lang auf der Kippe. Später kam der Streit um die Lichtburg...
...die einer Einkaufs-Passage weichen sollte. Überdies haben Sie – das darf man wohl so sagen – entscheidenden Anteil daran, dass die „Szene“ am Hauptbahnhof aufgelöst werden konnte.
Breyvogel: Auch zur Bahnhofsszene bin ich damals eigentlich über die Stadtkultur gekommen. Ich hielt es persönlich für unerträglich, welches Image die Stadt durch den dort tolerierten Zustand von sich selbst formte.
Rückblickend gesehen waren Sie immer auf der „Gewinnerseite“. Könnte sein, dass Sie diesmal bei den Verlierern stehen, oder?
Breyvogel: Ich persönlich glaube an unseren Sieg. Und dass so viele Bürger schon die Briefabstimmung beantragt haben, zeigt die starke Mobilisierung.
Wobei Sie nicht wissen, wer da wie abstimmt. Sie selber sind ja Nachbar der Messe. Schon mal bei der Motor Show die dicken Auspuffe bestaunt?
Breyvogel: Vor vielen Jahren war ich mal da, als meine Kinder noch klein waren.
Und bei der Mode Heim Handwerk einen Gurkenschneider gekauft?
Breyvogel: (lacht) Nein, das nicht. Aber ich kann durchaus verstehen, dass Leute da gerne hingehen und ihren Spaß haben.
Na, immerhin. Denn im Raum steht ja auch der Vorwurf, die Befürworter des Bürgerentscheids hätten so eine Art Messe-Phobie.
Breyvogel: Das wäre ein bisschen übertrieben. Nur sehe ich natürlich, was die Messe auch für den Stadtteil bedeutet – bei den Parkplätzen, bei der Wohnraumqualität, zumal in Verbindung mit dem Klinikum. Ich sehe auch die Entwicklung in Rüttenscheid, die vielen Events und was da ständig inszeniert wird, sehr kritisch.
Gut, es ist eng auf Marktplätzen, und der Rummel stört auch manchmal. Aber ist das nicht etwas kleinkariert? Die Messe bringt doch viel mehr, etwa Internationalität.
Breyvogel: Es ist ja nicht so, dass wir die Messe abwickeln wollen oder so was Ähnliches. Selbstverständlich soll es dort weitergehen. Ich bin nur der Meinung, dass die geplanten Investitionen bei der Haushaltslage der Stadt überhaupt nicht mehr ins Bild passen. Vor 10, 15 Jahren mag das anders gewesen sein. Aber in der gegenwärtigen Situation ist das ein Harakiri, finde ich.
Die Messe beteuert: Nur mit einer Ertüchtigung in diesem Ausmaß werde sie am Ende wirtschaftlich so ertragreich, dass der Verlustausgleich nachhaltig sinken kann.
Breyvogel: Wir haben uns mit den wirtschaftlichen Voraussetzungen der Messe intensiv beschäftigt. Wenn ich dann lese, dass der OB behauptet, die Messe sei ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor, muss ich entgegnen: Das ist in der Sache nicht richtig. Eine Messe, die ihr Eigenkapital in nicht unerheblichem Umfang verbraucht hat, die mit zunehmendem Verlustausgleich arbeiten muss, bindet wirtschaftliche Kräfte. Es fehlt in der Auseinandersetzung eine Kosten-Nutzen-Analyse und eine Antwort auf die Frage, welche Effekte die Gelder hätten, würden sie anders eingesetzt.
Aber der Kämmerer macht deutlich: Kein Schulklo bleibt unsaniert, nur weil die Messe teils neu gebaut wird.
Breyvogel: Ich kann mir vorstellen, warum Herr Klieve solche Äußerungen in der Öffentlichkeit von sich gibt. Das hat wohl etwas mit politischem Druck zu tun.
Jetzt steht eine Zahl im Raum: 123 Millionen Euro netto soll der Teilneubau des Messe-Geländes kosten.
Breyvogel: Das wird teurer, ganz sicher, weil es nach dem immer gleichen Prinzip läuft: Erst mal anfangen, dann schaffen wir das schon, den Rest auch noch durchzusetzen.
Wie muss man sich denn eine Messe-Ertüchtigung vorstellen, die Ihre Gnade gefunden hätte? 50, 60 Millionen Euro, um mal eine Hausnummer zu nennen – wäre das mit Ihnen zu machen gewesen?
Breyvogel: Ja selbstverständlich. Bei 50 Millionen Euro wären sicher auch bauliche Veränderungen eingerechnet. Dabei gibt es viele andere Möglichkeiten, den Auftritt zu verbessern – für deutlich geringere Beträge. Eine Modernisierung ist okay, eine Renovierung und technische Verbesserung auch – aber kein Abriss in dem Ausmaß, wie er jetzt geplant ist.
Die Neubaubefürworter sagen, es gehe beim Entscheid nicht nur um den Neubau einiger Ausstellungshallen, es gehe ums Vertrauen in die Messe, ja, mehr noch: sogar um das Vertrauen in die ganze Stadt.
Breyvogel: Aus meiner Sicht geht es um das Vertrauen in die Politik, das ist der entscheidende Punkt. Die Politik... Ich will nicht sagen: Sie hat sich angewöhnt, aber sie macht es sich an vielen Stellen doch sehr leicht, an der Oberfläche zu bleiben und den Bürgern nicht die notwendigen Grundlagen zu vermitteln, die für Entscheidungen notwendig sind, die der Bürger eigentlich auch erwartet.
Das von der Messe in Auftrag gegebene Gutachten des ifo-Instituts zur so genannten „Umwegrendite“, reicht Ihnen, wie wir wissen, nicht...
Breyvogel: Ich habe mit dem Gutachter selbst noch mal Kontakt aufgenommen, hätte ihn gerne gefragt, wie er dieses oder jenes einschätzt. Das war ihm gar nicht möglich. Er hat sich seit 2008 überhaupt nicht mehr mit der Messe Essen beschäftigt, ist auch gar nicht im Bilde, um was es hier derzeit geht, obwohl sich die ganze Sache auf seine Analyse stützt. Dass diese übrigens methodisch nicht angemessen ist, hat das unabhängige Gutachten, das wir vorgelegt haben, ja belegt.
Aber mit Verlaub, warum kam dieses Gutachten erst auf der Zielgeraden der Debatte?
Breyvogel: Das kann ich Ihnen nicht beantworten, denn ich habe das Gutachten zwar unterstützt, aber nicht veranlasst. Das waren die Grünen.
So auf den letzten Drücker machte es doch einen sehr bestellten Eindruck. Nach dem Motto: Wir brauchen unbedingt noch Material.
Breyvogel: So ist es aber nicht.
Für eine größere Debatte war’s da eh zu spät. So wie übrigens nach dem Abschluss der Unterschriftensammlung fürs Bürgerbegehren. Da haben Sie sich eine Zeit lang der Illusion hingegeben, man könnte noch mal was ausverhandeln. War das typisch Uni-Prof – der Aufprall der Theorie auf die Polit-Praxis?
Breyvogel: Ja, ein bisschen war es das. Und ich habe leider festgestellt, dass die wichtigsten Personen, die dafür hätten zur Verfügung stehen müssen, die Voraussetzungen gar nicht kannten. Diese Chance, die in der Gemeindeordnung vorgesehen ist, aufeinander zuzugehen, noch einmal einen Kompromiss auszuhandeln, war denen unbekannt, ich muss das leider so sagen. Erst durch unsere Hinweise hat man angefangen, sich damit zu beschäftigen.
Bis hin zur Stadtverwaltung…
Breyvogel: Bis hin zur Stadtspitze! Das fand ich schon etwas irritierend. Denn mit zwei, drei Wochen mehr Zeit, wer weiß, hätten wir die Argumente, die zum Zuge kommen werden, wenn wir den Entscheid gewinnen, dort schon vortragen können.
War das nicht arg blauäugig: erst ein Begehren einzustielen und dann – war ja nicht böse gemeint – mit der Politik alles neu verhandeln wollen?
Breyvogel: Ich gebe Ihnen gerne Recht: Das war in gewissem Sinne blauäugig, vor allem, wenn man sieht, wie festgefahren, mit dem Kopf durch die Wand, im Moment argumentiert wird. Die FDP kann sich doch gar nicht gegen das Wirtschaftlichkeitsargument stellen. Die CDU ist in sich vollkommen gespalten, die SPD ist sogar offen gespalten…
Am Ende haben Sie mit den Genossen gar nicht gesprochen. Warum?
Breyvogel: Die SPD hat uns so beschimpft, dass dieser Schritt von mir nicht zu erwarten war, wenn man verhandeln will. Das war einfach zu deutlich. Nach der Rücknahme der öffentlichen Angriffe, wäre die Situation dafür besser gewesen…
Aber da war’s dann auch zu spät. Jetzt also der Bürgerentscheid, wo ein Ja zum Nein wird und umgekehrt. Die Frage, das bescheinigt Ihnen sogar Messechef Galinnis, ist „verdammt gut gestellt“. Zufall?
Breyvogel: Ich war an der Formulierung nicht beteiligt. Aber es ging wohl nicht zuletzt darum, aus der Ecke der Nein-Sager herauszukommen.
Und Sie sagen jetzt „Ja“...
Breyvogel: ...zu Kindertagesstätten, Sportanlagen, Schulen, zur Fairness, aber auch zu: „Keine Messe um jeden Preis“.
Dass man Ihnen den Sieg zutraut, lässt sich schon daran erkennen, dass die „andere Seite“ auch sehr stark mobilisiert. Sie wissen doch, dass Sie bei denen inzwischen das Image eines Polit-Hooligans haben?
Breyvogel: Wenn Sie wüssten, welche Images man mir schon verpassen wollte. Ich lasse das abprallen.
Trifft Sie das denn nicht? Als Uni-Professor sind Sie das wahlkämpferische Drauflospoltern ja nicht zwingend gewohnt.
Breyvogel: Es trifft mich in gewissem Sinne natürlich, aber ich habe glücklicherweise genügend Rückhalt und Anerkennung in dem, was ich mache – familiär und bei den politischen Kooperationspartnern. Ich bin politisch unabhängig, ich weiß ja auch, warum ich das mache. Und jetzt, wo Sie’s sagen: Auch bei der Lichtburg und bei der Bahnhofsszene lagen wir damals im Vorwahlkampf, seltsam. Ich schließe auch nicht aus, dass die Ergebnisse des Bürgerentscheids durchschlagende Wirkung auf die Kommunalwahl im Mai haben könnten.
Meinen Sie wirklich? Ist das denn mehr als eine kleine hoch politisierte Minderheit, die sich so weitreichende Gedanken macht?
Breyvogel: In gewissem Sinne haben Sie mit Ihrer Skepsis recht. Dies ist eine Auseinandersetzung über die Qualität von Politik. Die Politik, die nur auf Oberfläche und Parolen setzt und meint, den Bürger nicht umfassend informieren zu müssen, die hat auf Dauer in der Informationsgesellschaft keine Chance. Wenn wir gewinnen, was ich hoffe, empfinden viele dies auch als Chance, dass sich da wieder was öffnet zu einer neuen Debattenkultur, die mancher schon verloren glaubt.
Wilfried Breyvogel
Von der sozialen Lage der Volksschullehrer in der Weimarer Republik bis zur Frage, wie aus Kindern Risikoschüler werden, hat sich Wilfried Breyvogel beruflich stets der „Sozialgeschichte der Erziehung“ gewidmet.
Eineinhalb Jahrzehnte lehrte der gebürtige Celler als Professor an der Uni Duisburg/Essen bis zu seinem Wechsel in den Ruhestand im April 2007.
Und immer mischte er sich ins Stadtgeschehen ein – auch via Kulturbeirat. Das hält wohl jung: Seine 71 Lebensjahre sieht man Breyvogel jedenfalls nicht an.
Und wenn Sie verlieren?
Breyvogel: Dann wird es trotzdem weitergehen. Ich habe mir darüber aber noch keine großen Gedanken gemacht.