Essen. In einem neuen prächtigen Fotoband leben die 1960er Jahre im Ruhrgebiet wieder auf, wobei Essener Motive eine herausragende Rolle spielen. Die Bilder in „Maloche und Minirock“ von Wilfried Kaute zeigen eine Stadt im Wandel und auf der Suche nach Zukunft.
Die Kriegstrümmer waren beseitigt, die Bescheidenheit der Nachkriegsjahre schwand, es wurde gebaut, was die Bagger hergaben, und die Sitten wurden lockerer. Die 1960er Jahren wirken heute in ihrem Optimismus, ihrer Zukunftsfreude wie eine sehr ferne Zeit. Ferne Zeiten aber sind ideal für große Bildbände, die davon leben, eine Mischung aus Wiedererkennen, Nostalgie und Befremdung zu bieten. Nach dem Erfolg seines Buches über die 1950er Jahre im Ruhrgebiet hat der Filmproduzent und Autor Wilfried Kaute jetzt einen Band über die 1960er Jahre nachgelegt. Wieder spielt Essen eine herausragende Rolle.
Gründe dafür gibt es einige. Viele Pressefotografen, vor allem die besseren, waren in Essen ansässig, ähnlich wie heute war Essen die Medienstadt des Reviers. Es gibt folglich ein Übergewicht an Essener Motiven im Archiv des Ruhrmuseums, wo Kaute erneut aus dem Vollen schöpfen konnte. Zudem gab es an der Zentrumsfunktion der Stadt fürs gesamte Ruhrgebiet wenig Zweifel, jedenfalls weniger als heute, da Essen schon lange nicht einmal mehr die größte Stadt der Region ist. Schon früh in den Sechzigern, genau am 31. Juli 1962, erreichte Essen mit 753 086 Einwohnern die größte Einwohnerzahl, die je gemessen wurde - und das noch ohne Burgaltendorf und Kettwig, die erst später hinzukamen. Von da an ging’s bergab. Der Keim der Schrumpfungskrise, die bis heute anhält, war früh gelegt, auch wenn’s lange keiner merkte. Für Essen hatten die optimistischen 1960er Jahre somit durchaus eine Kehrseite.
Eklat beim Stadtempfang
Sicher: Der gesellschaftliche Aufbruch, andere Lebensstile, freiere Ausdrucksformen, ein weniger formelles Verständnis vom Benehmen in der Öffentlichkeit - all das vollzog sich in Essen wie überall, allerdings im Vergleich etwa mit den Trend setzenden Universitätsstädten deutlich gedämpfter und nicht so stadtprägend. Als im September 1968 mit den Internationalen Essener Songtagen - organisiert vom Jugendamt (!) - eines der ersten Rockfestivals in Europa überhaupt ausgerechnet in der Grugahalle stattfand, kam es beim anschließenden Stadtempfang im Saalbau zum Eklat. Überrascht vom antiautoritären Gehabe, das sich bei dieser Gelegenheit Bahn brach, verließ Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt (SPD) empört den Saal. Die Ruhrgebiets-Sozialdemokratie wurde mit den rebellierenden Bürgerkindern nicht warm, erst recht gelang dies nicht einem Mann wie Nieswandt, der einst bei Krupp das Schmiede-Handwerk gelernt hatte.
Keine Großstadt verlor so viele Einwohner und gewann so wenige
Die existenzielle Krise von Krupp ab spätestens 1967 und die Zechenschließungen schon ab 1958 sind denn auch die andere Seite der 1960er Jahre in Essen. Natürlich fanden viele Entlassene rasch Ersatz: auf anderen Zechen, in den Konsumgüter-Industrien, beim boomenden Handel, den Energiekonzernen oder im öffentlichen Dienst, der in Essen ein Job-Motor wurde. Andere Menschen verließen Essen, um woanders Arbeit zu finden. Keine Großstadt verlor so viele Einwohner und gewann so wenige. Aber der Strukturwandel hinterließ auch immobile Verlierer und Abgehängte, die sich nicht so einfach in die neue Zeit vermitteln ließen. Folge dieser neuen, teils bis heute verfestigten Milieus: hohe Sozialkosten für die Stadt.
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All dies geschah vor dem Hintergrund eines Bau-Booms, dem es beim Abreißen gar nicht schnell genug gehen konnte und der sich nicht viel um Schönheit der Stadt scherte. Wilhelm Nieswandt drückte es 1961 so aus: „Nicht Wiederaufbau, sondern Neubau, nach den Merkmalen der Gediegenheit und der Zweckmäßigkeit - nicht der Üppigkeit.“ Und so betont nüchtern sieht Essen leider stellenweise heute noch aus.