Demokratie als Thriller - der Wahnsinn im Wahlkreis 120
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Essen. Drei Stimmen entschieden in Essen über das Direktmandat. Der glückliche Sieger, Matthias Hauer (CDU) und seiner Kontrahentin Petra Hinz von der SPD mussten bis zur letzten Sekunde bangen. Am Ende ging das Rennen für beide gut aus - und die Demokratie erlebte eine Sternstunde.
Es ist eine Wahlnacht, in der aus dieser Floskel Wahrheit wird: Es kommt auf jede Stimme an. Im Wahlkreis 120, im Essener Südwesten, ist es auf jede Stimme angekommen. 195.692 Menschen im Essener Südwesten sind an diesem Sonntag aufgerufen, sich zwischen zehn Direktkandidaten zu entscheiden. Am Ende geben drei Stimmen den Ausschlag, drei von 149 419 Kreuzen, die sich auf zehn Köpfe verteilen. Vom parteilosen Künstler Johannes Gramm über die Zählkandidaten von FDP, Grünen, Linken und anderen. Chancen auf das Direktmandat haben nur zwei: Petra Hinz, 51, seit 2005 für die SPD im Bundestag, und zuversichtlich, gut gearbeitet zu haben.
Und Matthias Hauer, 35, Rechtsanwalt, CDU-Ratsherr, der leise hoffen kann, dass es ihm gelingen wird, nach 30 Jahren den Roten dieses Direktmandat mal abzunehmen. Doch die Hoffnung wird immer lauter und am Ende zum Freudengeheul angesichts des wohl dünnsten Wahlsieges, den je ein Direktkandidat für den Bundestag für sich reklamieren konnte. 59043 Stimme hat er, 59040 Petra Hinz. Zuvor gab es über Stunden ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Drei Kreuze für eine weitere Amtszeit
Mal lag Hauer ein paar Hundert Stimmen vorn. Dann, nachdem der nächste Stimmbezirk ausgezählt wurde, hatte Petra Hinz zwei Dutzend Stimmen Vorsprung. Bis zum letzten Stimmbezirk war sie überzeugt: Es reicht noch. Da lag Matthias Hauer noch 124 Stimmen vorn, es fehlte noch ein Wahllokal aus dem eher roten Frohnhausen. Über eine halbe Stunde dauert es, bis endlich auch dieser letzte Bezirk ausgezählt ist. Und Petra Hinz geschlagen ist. Mit drei Stimmen Differenz.
Bundestagswahl 2013Doch sie gibt sich auch am Morgen nach der schlaflosen Nacht staatsmännisch: „In so einem Moment denkt man vor allem auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Laufbahn hängt ja auch davon ab, ob man wieder ins Parlament einzieht.“ Womöglich hat sie sich wieder in ihrem Beruf als Juristin arbeiten sehen, ganz sicher aber den Entschluss gefasst, dass nachgezählt werden muss.
Drei Kreuze für eine weitere Amtszeit. Haben wirklich alle zittrigen Seniorenhände auf jedem Stimmzettel den Wählerwillen eindeutig dokumentiert? Ist in jedem Wahllokal zu vorgerückter Stunde jede Addition geglückt? So raunt Petra Hinz auf ihrer Facebook-Seite von „Unregelmäßigkeiten“. Ja, da habe ein Stimmbezirk mal kurz 700 Stimmen für Hauer, 300 für Hinz und Null für den Rest gemeldet, das aber wieder zurückgezogen, erklärt sie am Tag drauf.
Hier lauter Gesang, dort Analyse im stillen Kämmerlein
„Mehrheit ist Mehrheit“, hat hingegen Matthias Hauer gepostet. Ob er das auch so locker getan hätte, wenn ihm drei Stimmen gefehlt hätten? So aber feiert er ausgelassen in einer Rüttenscheider Kneipe, die sich eigentlich die Sozialdemokraten ausgeguckt hatten. Die drei letzten Kneipengäste sehen sich nun weit nach Mitternacht einem fröhlichen Haufen gegenüber, der „Hauer, Hauer, Hauer“ ruft, als müsse der 1,90-Meter-Mann jetzt tonnenschwere Klötze bearbeiten statt zierlicher Kölsch-Stangen. Am Ende intonieren sie sogar Campinos „An Tagen wie diesen“. Wofür bei diesem Finale womöglich sogar der Tote-Hosen-Sänger einen Hauch Verständnis aufbringen könnte, dass sein Lied Wahlkampfgut wird.
In diesen Stunden saß Petra Hinz mit ihren Getreuen im stillen Kämmerlein. Analyse statt Taschentuch, sagt sie. Bis gegen halb zwei Hoffnung keimte, dass ihr schier aussichtsloser Platz auf der Reserveliste doch reichen könnte. Und tatsächlich: „Um drei Uhr wusste ich es dann.“ Petra Hinz wird um Haaresbreite wieder im Bundestag sein - über die Landesliste ihrer Partei. Sie sieht sich dennoch nicht als glückliche Verliererin. „Es ist etwas anderes, direkt gewählte Abgeordnete zu sein“, sagt sie und pocht darauf, dass geprüft wird. „Bei drei Stimmen ist das doch klar“, sagt sie. Doch nachgezählt wird nur, wenn es „substanzielle Bedenken“ gibt.
Wahlsieger Hauer kann die Prüfung gelassen abwarten. Er ist im neuen Bundestag. Weil AfD und FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten, bekommen beide Akteure dieses Wahlkrimis das Ticket nach Berlin. So sind sie am Ende irgendwie beide Sieger. Doch gewonnen hat vor allem die Demokratie. Zugegeben, das ist auch eine Floskel. Aber ebenfalls eine wahre.
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