Essen. Fast 56 Jahre nach dem Mord an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt sind verschollene Polizeiakten wieder aufgetaucht. Harald von Bohlen und Halbach, der Bruder des „letzten Krupp“, spielt darin eine wichtige Rolle. Indizien ließen ihn für die Beamten zu einem der Hauptverdächtigen werden.
Sie waren alle märchenhaft reich, das liegt auf der Hand. Aber leicht im Leben hatte es dennoch keines der sieben Kinder von Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Einer der am meisten dafür bezahlte, Spross der Krupp-Dynastie gewesen zu sein, war Harald von Bohlen und Halbach. Sein Name trug dem 1916 Geborenen zehn lange Jahre Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion ein, als einer der letzten Wehrmachtssoldaten überhaupt kehrte er 1955 heim nach Essen – in ein Deutschland, das sich völlig verändert hatte. Manche sagen, hier sei der Grund zu suchen dafür, dass Harald von Bohlen in einen der spektakulärsten, bis heute unaufgeklärten Mordfälle der 1950er Jahre verstrickt war, zu dem das Nachrichtenmagazin „Focus“ jüngst neue Fakten lieferte.
„Sie sprach mich aus ihrem Wagen an“
Das Opfer, das im Spätherbst 1957 erstochen aufgefunden wurde, war eine Frankfurter Prostituierte – „die berühmteste der Republik“, wie der Focus wohl zutreffend schreibt. Rosemarie Nitribitt zählte die Reichen jener Zeit zu ihren Kunden und Bekannten – Blaublüter, Rennfahrer und vor allem Männer aus alten Industriedynastien, die in den Wirtschaftswunderjahren rasch erneut zu Wohlstand kamen: Harald Quandt, Gunther Sachs – und Harald von Bohlen.
Der Junggeselle, voller Lebenslust nach den langen Jahren der Entbehrung, war „der Nitribitt“ im März 1957 in der Nähe des Luxushotels Frankfurter Hof erstmals begegnet. „Sie sprach mich aus ihrem Wagen an“, schildert es Bohlen selbst in den Ermittlungsakten der Polizei, die lange als verschollen galten und die der Focus auftrieb und erstmals journalistisch auswerten konnte.
Das Krupp-Stammhaus
Es folgte eine Beziehung über ein halbes Jahr, Harald von Bohlen traf in dieser Zeit laut Vernehmungsprotokoll etwa zehnmal mit Nitribitt in deren Wohnung zusammen. Es muss mehr gewesen sein als nur erotische Anziehungskraft. In den Polizei-Akten fanden sich Liebesbriefe und zärtliche Gedichte, der Krupp-Spross überschüttete seine Geliebte mit Geschenken, und angeblich hoffte diese sogar, ihn heiraten zu können. Das Fatale: Harald von Bohlen muss auch um die Zeit, als Nitribitt starb, bei der 24-Jährigen gewesen sein. Auf einer angebrochenen Rotwein-Flasche am Tatort fanden die Ermittler seine Fingerabdrücke, und zwar „ohne jeden Zweifel“, zitiert der Focus aus den Akten.
Alibi einer Hauswirtschafterin brachte Bohlen aus der Schusslinie
Für die Polizei war er wegen dieses Fundes offenkundig einer der Hauptverdächtigen, doch gab Bohlen an, in den fraglichen Tagen zwischen dem 28. und 31. Oktober in Essen gewesen zu sein. Die Beamten verhörten mehrere Bedienstete des Bohlen-Domizils in Bredeney und gaben sich schließlich mit einem Alibi zufrieden, das von der Hauswirtschafterin seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter Bertha stammte. Offensichtlich befragt, ob Bohlen nicht nächtens unbemerkt nach Frankfurt hätte fahren können, sagte sie: „Nach dem Tode seiner Mutter fühlte ich mich für Herrn von Bohlen und Halbach verantwortlich und würde verspüren, wenn er längere Zeit abwesend wäre“. Der Focus bewertet diese Aussage als „ziemlich skurril“. Wie auch immer: Nie sind Gerüchte verstummt, dass die Strafverfolgungsbehörden wegen der Prominenz der möglichen Täter früh ihren Aufklärungsdrang verloren. Klar ist aber auch: Einen Beweis gegen Harald von Bohlen gab es ebenfalls nie.
In Essen wurde der Fall damals sorgfältig beschwiegen, und als die Zeitschrift „Quick“ über die Ermittlungen mit Nennung von Namen berichten wollte, soll es an Interventionen aus Firma und Familie nicht gemangelt haben. Mit Erfolg. Harald von Bohlen ist 1983 verstorben, ohne dass seine Rolle zu Lebzeiten noch einmal beleuchtet wurde. Und auch die Akte Mordfall Nitribitt ist längst geschlossen – ungeklärt.