Essen. . Tausende Hartz IV-Empfänger in Essen müssen mit Post vom Amt rechnen, seitdem die Stadt alte Daten der Agentur für Arbeit auf mögliche Überzahlungen abklopft. Insgesamt geht es um Rückforderungen in Höhe von rund 29 Millionen Euro. Derweil soll es in Essen bereits zu unberechtigten Vollstreckungen gekommen sein, die Familien in finanzielle Notsituationen brachte.
Das Jobcenter fordert etliche Millionen Euro zurück: Tausende Hartz IV-Empfänger, einige Vermieter als auch Wohnungsunternehmen und Bildungsträger werden von der Stadt verstärkt zur Kasse gebeten. Es gibt die ersten juristischen Klagen gegen Zahlungsaufforderungen, es gibt die ersten Zwangsvollstreckungen und kritische Nachfragen aus der Politik.
Für die Stadt geht’s um einen Batzen Geld: Das so genannte Forderungsvolumen beträgt rund 29 Millionen Euro aus den zurückliegenden acht Jahren. Es geht um immerhin 17.000 Fälle von angeblichen „Überzahlungen“ an Hartz IV-Haushalte – etwa dann, wenn finanzielle Hilfe vom Staat für ein Kind im Haushalt weiterkassiert wurde, das längst ausgezogen war, oder jemand trotz eines Jobs weiterhin Hartz IV bekommen hat.
Die ärmsten Essener sollen der Stadt 20 Millionen Euro schulden. Jeder Fall schlägt durchschnittlich mit mehr als 1000 Euro zu Buche. Dazu kommen neun Millionen Euro, die bei Wohnungsunternehmen oder Bildungsträgern eingetrieben werden sollen – etwa weil Geld überwiesen, dafür aber keine Leistung erbracht wurde.
Datenbank wird durchforstet
Die Stadt überprüft alle diese Altforderungen anhand von Datenbeständen, die sie von der Bundesagentur für Arbeit übernommen hat, nachdem die gemeinsame Arbeitsgemeinschaft passé war und sich die Wege in Richtung Optionskommune getrennt hatten.
Nach all den Wirren der Übergangsphase findet man nun offenbar erstmals die Zeit, sich wirklich intensiv um jene „Karteileichen“ zu kümmern, bei denen Geld zu holen sein könnte. „Der Prozess hat jedenfalls extrem an Dynamik zugenommen“, heißt es in der Behörde, die nach und nach versucht, „Ordnung in den Datensalat zu bekommen, der uns da übermittelt wurde“.
Was für das Jobcenter eine so zusätzliche wie aufwendige Kleinarbeit bedeutet, ist für die Betroffenen in vielen Fällen mehr als nur ärgerlich. Denn häufig stellt sich heraus, dass die in den Akten vermerkten Nachforderungen längst nicht mehr gültig sind. Inzwischen ist wohl davon auszugehen, dass etwa die Hälfte der in den Akten der Arbeitsagentur vermerkten Fälle zu keiner nachträglichen Erstattung durch den Hartz IV-Bezieher mehr taugen.
Unberechtigte Forderungen
Dennoch: „Wir müssen jetzt die alten Versäumnisse aufarbeiten“, heißt es im Rathaus. „Wenn eine Forderung besteht und umgesetzt werden kann, dann machen wir das auch“, machte Sozialdezernent Peter Renzel jüngst im Sozialausschuss deutlich, nachdem Gabriele Giesecke, sozialpolitische Sprecherin der Linke-Ratsfraktion, das Thema auf den Tisch gebracht hatte.
Es gebe Informationen von Rechtsanwälten, so die Linke, wonach mehrfach versucht worden sei, Forderungen einzutreiben, die nach juristischer Einschätzung keine waren. „Die betroffenen Personen hatten einen Offenbarungseid zu leisten, obwohl es keinerlei eintreibbare Forderungen seitens der Stadt gab. Entweder waren die Daten veraltet oder schlicht falsch“, so Giesecke.
Allein in der Kanzlei von Jan Häußler, Fachanwalt für Sozialrecht, gibt es inzwischen „ein Dutzend Fälle, in denen das Jobcenter unberechtigte Forderungen vollstrecken lässt“. Es handele sich um Vorgänge, für die gar kein Bescheid ergangen sei, um Bescheide, die nach Widerspruch bereits aufgehoben wurden oder gegen die Klagen mit aufschiebender Wirkung laufen.
„Also alles Forderungen, die nicht bestehen, aber dennoch vollstreckt werden“, wie Häußler kritisiert: „Und zwar auf Zuruf des Jobcenters“ – selbst auf der Grundlage falscher oder nicht mehr aktueller von der Regionaldirektion der Agentur für Arbeit übermittelter Daten, wie der Rechtsanwalt bemängelt. In einem Fall einer vierköpfigen Familie hat Häußler jetzt Klage eingereicht.
Kreditfähigkeit der Bürger gefährdet
Nach Darstellung des Anwalts hatten seine Mandanten im vergangenen Jahr schriftlich einer Mahnung widersprochen. Die Stadt wollte den Vorgang klären. Ein Jahr hört die Familie nichts, dann sei vollstreckt worden, als hätte es keine Einwände gegeben, so Häußler – mit allen Folgen für die Familie.
„Durch diese Maßnahme ist die Kreditfähigkeit der Bürger konkret gefährdet sowie die Anmietung einer Wohnung oder der Abschluss von Handy-Verträgen“, heißt es in einem Antrag der Linken. Der Sozialausschuss hat der Verwaltung inzwischen empfohlen, im Zweifel von Vollstreckungen abzusehen, bis alle Fragen geklärt sind. Etwa die: In welcher Form, die Daten der Agentur überprüft werden