Essen. Sie sind die „anderen Abiturienten“: Auch der zweite Bildungsweg führt dieser Tage manchen Essener ans Ziel.
Wenn derzeit vom Abitur die Rede ist, geht es meist um G8 und den Doppel-Jahrgang, seltener um Menschen wie Dominik Paetzel. Vom „Turbo-Abi“ ist der 29-Jährige weit entfernt, er nahm einen anderen, den so genannten zweiten Bildungsweg. Im Vergleich zu den mehr als 4000 Gymnasiasten und Gesamtschülern, die dieser Tage in Essen die Reifeprüfung ablegen, bilden er und seine Mitstreiter eine kleine Gruppe. Ihr Erfolg aber ist vielleicht sogar ein besonders großer.
„Ich wollte nicht mehr am unteren Ende meiner Möglichkeiten operieren“, sagt Paetzel über seine Entscheidung, das Abitur nachzuholen. Zuletzt hatte der gelernte Chemielaborant drei Jahre lang in einem Callcenter gearbeitet, weil er in seinem Bereich keine passende Stelle fand. Auch das Gefühl, gänzlich ohne Job da zu stehen, ist ihm nicht fremd. Am Ruhrkolleg arbeitete er sich nicht nur Schritt für Schritt Richtung Abitur vor, er entdeckte auch seine Leidenschaft für die antiken Sprachen. „Ich habe mich in Latein verliebt.“ Zum Wintersemester möchte er ein Lehramtsstudium beginnen.
„Ich hatte einfachkeine Lust mehr“
Ein Spaziergang war das nicht, der zweite Bildungsweg ist steinig. Das hat auch Dennis Rotthaus (26) erfahren. Merkwürdig sei es gewesen, nach Jahren fernab des Klassenzimmers wieder die Schulbank zu drücken. „Schon an das Schreiben mit der Hand musste man sich gewöhnen. Überhaupt hatte man vorher einen ganz anderen Tagesablauf.“ Rotthaus war vier Jahre lang bei der Bundeswehr, nachdem er das Gymnasium geschmissen hatte. „Ich habe einfach keine Lust mehr gehabt.“ Doch sein Traum vom Studium blieb haften. Ein Freund erzählte ihm vom Ruhrkolleg, nun trennt Rotthaus vom Abitur nur noch die mündliche Prüfung. Er hat schon die Zusage für eine duale Ausbildung, wird neben der Lehre Elektrotechnik studieren.
Es sind diese Erfolgsgeschichten, die Ruhrkolleg-Leiter Rolf Dieler gerne erzählt – ohne zu verschweigen, dass es oft anders ausgeht. Von den 120 „Studenten“, wie man sie hier nennt, die vor drei Jahren antraten, haben es 30 tatsächlich bis in die Abiturprüfungen geschafft. Manche gingen mit der Fachhochschulreife, viele strichen ganz die Segel. Umso mehr Anerkennung gebühre denen, die durchhielten, sagt Dieler. „Sie haben sich nach einem Abbruch aufgerafft, all diese Hürden zu nehmen – ohne Eltern oder andere Helfer im Rücken. Das sind Menschen, die in besonderer Weise in der Lage sind, sich selbst zu motivieren und zu organisieren.“ Das habe sich auch bei Arbeitgebern herumgesprochen.
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Unterricht an das Alter der Schüler angepasst
Dass die Studenten des Ruhrkollegs viel Lebenserfahrung mitbringen, bedeutet auch für die Lehrer ein anderes Arbeiten. „Man darf nicht vergessen, dass man es mit Erwachsenen zu tun hat“, sagt Silke Kreft, die Biologie, Erdkunde und Mathematik unterrichtet und in ihrer Anfangszeit als Lehrerin sogar schon mal die Jüngste in einem Kursraum war. Der durchschnittliche Ruhrkolleg-Student ist zwischen 20 und 30, bisweilen finden sich unter den Spät-Abiturienten aber auch Pensionäre. So oder so: „Wir begegnen uns auf Augenhöhe.“
Das kommt offenbar an. Mattias Hicking (22) hat in seiner ersten Schulkarriere schlechte Erfahrungen gemacht. Es brauchte einen Neustart am Ruhrkolleg, um zu erkennen: „Wenn die Lehrer mich wie einen Menschen behandeln, macht Schule mir Spaß.“ Seine Mitstudentin Elisabeth Wille (24) kann sich sogar vorstellen, wie Dominik Paetzel irgendwann selbst zu unterrichten – Englisch und vielleicht eine weitere Fremdsprache. Nach der Schule hatte sie zunächst als freie Fotografin gearbeitet, gekellnert, als Au Pair-Mädchen in den USA gelebt. Ein weiter Weg ans Ruhrkolleg, aber immer ihr eigener.