Essen. Eine Familie aus Essen kauft eine Wohnung, um für das Alter vorzusorgen. Doch die Finanzierung ist wacklig und die Mieter zahlen nicht. Am Ende bleiben ein Berg Schulden und eine kaputte Ehe zurück. Ein Fallbeispiel für die zunehmende Überschuldung von Privathaushalten.

160.000 Mark hat die Wohnung in Frintrop damals gekostet, doch bezahlt hat Andrea Koch (Name geändert) mit allem, was sie besaß. 17 Jahre nach der fatalen Kaufentscheidung ist ihre Ehe kaputt, ihr jüngerer Sohn brach die Schule ab und fand nie mehr richtig Tritt, ihr Zuhause musste sie aufgeben, sie ist krank und erschöpft. Die 57-Jährige geht täglich zur Arbeit und hat doch kein Geld in der Tasche: Sie arbeitet einen Schuldenberg ab.

12,7 Prozent der Essener sind überschuldet, viele warten lange auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, das sie von den Schulden befreien soll (Text unten). Fünf Jahre vergingen, nachdem Andrea Koch und ihr Mann sich bei der Schuldnerhilfe in die Warteliste eintrugen: „Fünf Jahre immer wieder schreckliche Post vom Gerichtsvollzieher.“ Dabei hatten sie alle Hoffnung auf das Seminar der Schuldnerhilfe gesetzt: „Uns traf der Schlag, als da 100 Leute im Raum saßen.“

Sparkasse bot Vollfinanzierung an

Dass sie einmal hier landen würden, hatten die Kochs nie geglaubt. In den 1990er Jahren leben sie mit den beiden Söhnen in einer netten Mietwohnung in Bredeney, machen regelmäßig Urlaub und haben zwei Lebensversicherungen. Sie ist Angestellte beim Arbeitsamt, er bekommt ab 1995 eine Berufsunfähigkeitsrente. Um fürs Alter vorzusorgen, rät man dem Ehepaar, Wohneigentum zu erwerben. Doch was als Betongold wieder einen Boom erlebt, „war unser Untergang“.

Völlig unerfahren vertrauen die Kochs auf Sparkasse und Bausparkasse, die ihnen 1996 die Vollfinanzierung der Wohnung in Frintrop anbieten: Bei einem Kaufpreis von 160.000 Mark werden sie 220.000 Mark aufbringen müssen. Finanzieren wollen sie das über die Mieteinnahmen, denn die Kochs bleiben in in Bredeney. „Dabei wäre es steuerlich von Vorteil gewesen, selbst in die Eigentumswohnung zu ziehen.“

„Als der Gerichtsvollzieher kam, gab’s schon nichts mehr zu holen“

Sie seien zu naiv gewesen, räumt Andrea Koch ein. Was sie nicht voraussehen konnten: Die scheinbar gut gestellten Mieter zahlen nur selten die Miete. Kochs schicken Mahnungen, die Mieter antworten mit Urlaubspost aus Marokko. Um den Kredit bedienen zu können, fängt das Ehepaar an, Zeitungen auszutragen. „Und als die Mietnomaden nach drei Jahren verschwanden und uns Mietschulden, Anwaltskosten und eine Bruchbude hinterließen, zogen wir selbst ein.“ Damit sparten sie zwar die Miete, doch ihre Verbindlichkeiten waren längt zu hoch.

„Nach außen haben wir die Fassade noch aufrecht erhalten, aber das Essen hab’ ich oft aus dem Müllcontainer beim Supermarkt gefischt.“ Der jüngere Sohn will nicht in die neue Schule in Frintrop gehen, sitzt nur vorm Computer. Jede Reparatur reißt ein Finanzloch, die Eheleute leihen sich Geld, veranstalten Flohmärkte, sparen, schuften, streiten. „Als der Gerichtsvollzieher kam, gab’s schon nichts mehr zu holen.“ Als ihr Lohn gepfändet wird, tröstet man sie im Personalbüro: „Sie sind nicht die einzige, der das passiert.“

Wohnung für nur 25.000 Euro zwangsversteigert

Nach zehn Jahren macht ihnen die Sparkasse klar, dass sie noch keinen Cent getilgt haben. Da geben Kochs auf, gehen 2006 zur Schuldnerhilfe; 2011 wird das Insolvenzverfahren abgeschlossen. Nun sind auch die Lebensversicherungen von 40.000 Euro weg – und für Andrea Koch ist der Alptraum nicht zu Ende: Während ihr Mann seine kleine Rente behalten darf und Wohngeld bekommt, werden von ihrem Gehalt 500 Euro einbehalten. Täglich fährt sie den 24-jährigen Sohn, der bei ihr lebt, um 2.45 Uhr zum Zeitungsaustragen ans andere Ende der Stadt, geht danach um 6.30 Uhr ins Büro. Jeden zweiten Freitag hat sie frei, „da kümmere ich mich um meine 80-jährige Mutter“. Für ihre Enkel hat sie kaum Zeit. Ihr Wunsch: „Einmal durchatmen.“ Ihr Traum: „In Urlaub fahren.“ Ihre tatsächliche Perspektive nach 40 Jahren Arbeit: „In fünf Jahren kann ich schuldenfrei sein – wenn ich so lange durchhalte.“ Sie klagt nicht, sie sagt das ganz sachlich.

Die Wohnung in Frintrop, die einst umgerechnet 80.000 Euro kostete, erbrachte bei der Zwangsversteigerung übrigens 25.000 Euro.

Schuldner landen auf Wartelisten

Knapp 10 Prozent der Bundesbürger sind überschuldet, in Essen sind es fast 13 Prozent. „Die können ihre Verbindlichkeiten mittelfristig nicht bedienen“, sagt Volker Naujok, Insolvenzberater bei der Verbraucherberatung: „Kurz: Sie sind pleite.“

Für viele Betroffene ist die Privatinsolvenz der letzte Ausweg. Bevor aber ein Insolvenzverfahren eröffnet werden kann, muss der Schuldner nachweisen, dass eine außergerichtliche Einigung mit dem Gläubiger gescheitert ist. Bescheinigen dürfen das nur Anwälte, die sich die verschuldeten Bürger meist nicht leisten können, oder anerkannte Stellen wie Schuldnerhilfe oder Verbraucherberatung. Bei beiden gibt es lange Wartelisten; die Verbraucherberatung setzt vor 2014 keine neuen Fälle mehr auf die Liste.

2012 konnten mit Hilfe der Essener Verbraucherberatung 46 Insolvenzverfahren abgeschlossen werden, in 17 Fällen erzielte man eine außergerichtliche Einigung. Insgesamt 4332 in Not geratene Bürger suchten im vergangenen Jahr Hilfe: „Bei vielen ging es um die pure Existenzsicherung“, sagt Naujok. Also etwa darum, Räumungsklagen oder Stromsperren abzuwenden.