Nils überragt seinen Mitschüler Nicolas beinah um einen ganzen Kopf. Das ist natürlich Zufall, und passt doch ins Bild, schließlich gehört Nils Sotmann (18) zu den „Großen“ unter den Abiturienten. Er hat die Gymnasialzeit in den bislang üblichen neun Jahren absolviert, während Nicolas Bellingkrodt (17) die Überholspur nahm. Kurz vorm Ziel sind sie gleichauf: Beide haben kommende Woche ihren letzten Unterrichtstag, beide stellen sich im April am Gymnasium am Stoppenberg der Reifeprüfung. Aber fühlen sie sich auch gleich gut vorbereitet, fürs Abi und fürs Leben? Hätten sie gerne getauscht? Blicken Sie vielleicht neidisch auf den Mitschüler, der zwischendurch öfter mal auftanken konnte, oder – andersherum – der nun eher auf dem Arbeitsmarkt ankommt? Ist Schnelligkeit alles?

An fast allen EssenerGymnasien nur noch G8

Auf keinen Fall, sagt Nils Sotmann. Er würde sich wieder für die längere Strecke entscheiden – auch wenn er sie nicht bewusst gewählt hat. Er zählt schlicht zum letzten Jahrgang, für den die neunjährige Schulzeit galt, an seinem Gymnasium ebenso wie an den meisten anderen in Essen. Lediglich das Gymnasium Borbeck ist zu G9 zurückgekehrt, und auch an den Gesamtschulen erlangen Schüler das Abitur weiterhin nach neun Jahren. Schön war die Zeit, sagt Sotmann, und allein deshalb hätte er ungern auf ein Jahr verzichtet. Vor allem aber: Schon das eigene Pensum schien ihm anspruchsvoll genug.

„Es ist ja nicht so, als hätten wir die ganze Zeit in der Ecke gesessen, während der G8-Jahrgang Unterricht hatte.“ Vielmehr sei auch für ihn und seine Klassenkameraden bisweilen Druck spürbar gewesen, dieses oder jenes Thema rasch zu Ende zu bringen, bevor in der Woche darauf schon die nächste Lektion anstand. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sich das noch weiter komprimieren lässt.“

Nun, es geht offenbar, Nicolas Bellingkrodt hat es erlebt. Der schnelle Abschluss komme tatsächlich nicht von ungefähr, sagt der 17-Jährige. Oft genug seien er und seine G8-Mitstreiter am Nachmittag die letzten in der Schule gewesen. Zu spüren bekamen sie die höhere Schlagzahl vor allem in der Unterstufe. Brachte der Wechsel von der Grund- in die weiterführende Schule seit jeher viele Veränderungen mit sich, setzen nun in Klasse 5 und 6 gleich zwei Fremdsprachen ein, was freilich nur bedingt mit der Umstellung auf G8 zu tun hat. So oder so: „Man muss sehr schnell Verantwortung für sich und das eigene Lernen übernehmen.“

Trotz allem könnte Bellingkrodt sich vorstellen, diesen Weg wieder zu gehen. Es erfüllt ihn mit einem gewissen Stolz, „in zwölf Jahren geschafft zu haben, was andere in 13 schaffen“. Die oft gehörte Kritik am „Turbo-Abitur“, das Kinder und Jugendliche über die Maßen beanspruche und sie all ihrer Freizeit beraube, teilt er nicht. „Die Schule hatte Priorität, aber ich konnte immer noch Klavier spielen und zum Fußballtraining gehen.“ Die Vereine hätten sich auf die neuen Stundenpläne ihrer Schützlinge eingestellt.

„G8 wird bald Normalität sein“, sagt auch Rüdiger Göbel, Leiter des Gymnasiums am Stoppenberg. Was sieht er, wenn nun sein Doppel-Jahrgang dahinzieht – lauter gleich gut für die Zukunft gerüstete Abiturienten? Oder gibt es tatsächlich die „Kleinen“ und die „Großen“, selbst wenn der Unterschied nicht immer so augenfällig ist? „Man merkt schon, dass die G8-Schüler jünger sind.“ Man merke es an ganz praktischen Dingen – zum Beispiel daran, dass die Führerscheinprüfung bei ihnen kein großes Thema ist. Man merkt aber auch, sagt der Schulleiter, dass da schlichtweg ein Jahr Lebenserfahrung fehlt. Die Älteren seien vielleicht etwas belastbarer. Die Frische, mit der die Jüngeren durchstarten, habe gleichwohl ihr Gutes. Vorbereitet seien sie alle, da mache er sich keine Sorgen.

Dass sich etwas verschiebt in der Entwicklung der Schüler, spürt auch Schulsozialarbeiter Markus Schumacher. „Es fällt auf, dass man gezielter nachhelfen muss.“ Das gelte nicht nur für den Einstieg in der fünften Klasse, sondern auch für den Übergang in die Oberstufe. Werten will Schumacher diese Veränderungen in der Schüler-Vita nicht, es brauche einfach eine andere Begleitung. Mit übermäßigem Druck durch G8 habe das nichts zu tun. Als Sozialarbeiter sei er jedenfalls nicht plötzlich mehr gefragt, weil Kinder und Jugendliche sich durch die verkürzte Zeit bis zum Abitur überfordert fühlten.

Schule: Nicht mehr Sitzenbleiber als früher

Laut Schule ist auch die Sitzenbleiber-Quote im G8-Jahrgang nicht höher als bei denjenigen, die ein Jahr mehr Zeit hatten, den Stoff zu bewältigen. Ohnehin lassen die Verantwortlichen anklingen, dass sie die Warnungen vor G8 rückblickend für übertrieben und sogar schädlich halten. Erst durch die von außen herangetragenen Sorgen sei das „Turbo-Abitur“ auch für die Kinder Thema geworden. Unterm Strich hätten sich die Befürchtungen nicht bewahrheitet.

Und was ist mit der Sorge, Jugendliche würden – nicht zuletzt durch G8 – nur noch auf Arbeitsmarkt-Tauglichkeit getrimmt? Darauf, möglichst schnell die Schule abzuschließen, möglichst passgenau zu studieren oder sich ausbilden zu lassen, ohne nach links und rechts zu gucken? Auf Nicolas Bellingkrodt trifft das jedenfalls nicht zu. Medizinstudium, Pilotenausbildung, was mit Film – oder doch lieber zur Polizei? Der 17-Jährige hat viele Interessen und will bei der Entscheidung über seinen weiteren Weg nichts überstürzen, selbst wenn das „gewonnene“ Jahr dabei draufgehen sollte. Schnelligkeit ist nicht alles, das sieht Nicolas kaum anders als Nils. Der hat sich inzwischen überlegt, was er will: Lehrer werden.