Essen. . Das faktische Auslaufen der Hauptschule sorgt in Essen für eine paradoxe Situation: Die Quote der Schulabbrecher ist im vergangenen Jahr gesunken - weil weniger Schüler auf die Hauptschule gehen. Damit haben Lehrer dort endlich mehr Zeit, sich intensiver um ihre Schüler zu kümmern.
In den meisten Fällen beginnt es damit, dass Schüler mal eine Stunde später zum Unterricht kommen. Aus einer Stunde werden zwei, irgendwann bleiben sie ganze Tage weg. Das sei ein gängiges Problem, sagt Hauptschulleiter Wim Roß, und ebenso standardmäßig ist seine Reaktion. „Wir werden so schnell wie möglich aktiv.“ Mit Elterngesprächen und durch Schulsozialarbeit, bei mangelndem Erfolg aber auch mit „Androhung der Zwangszuführung“. Wenn selbst das nicht fruchtet, holt tatsächlich das Ordnungsamt die Schüler aus dem Bett.
5,4 Prozent des Jahrgangs machen keinen Schulabschluss
Was Pädagogen und Schulverantwortliche vermeiden wollen: dass ein Kind irgendwann gar nicht mehr kommt, nicht mehr greifbar ist, durch die Maschen fällt. Das ist 2012 in Essen seltener passiert als im Jahr zuvor. Für 2011 wies die Statistik noch 423 Abbrecher aus – Schüler, die ohne Hauptschulabschluss blieben. Das waren 6,8 Prozent aller Schulabgänger des Jahrgangs. 2012 sank ihre Zahl auf 342, die Quote damit auf 5,4 Prozent.
Aus Sicht von Wim Roß, Sprecher der Essener Hauptschulen und Leiter an drei der fünf verbliebenen Standorte, liegt das Verdienst für diesen Rückgang vor allem bei den Hauptschulen. „Die Zahlen sind deshalb gesunken, weil wir im Moment personell gut besetzt sind und die Schüler stärker individuell fördern können.“ Das wäre ziemlich paradox: Weil die Hauptschule de facto abgeschafft wird und ihre Schülerschaft schrumpft, während die Zahl der Lehrer etwa gleich bleibt, sind die Pädagogen nun endlich in die Lage versetzt, sich optimal um ihre Schüler kümmern zu können?
„Die Arbeit verteilt sich auf mehr Schultern"
Roß ist davon überzeugt. „Die Arbeit verteilt sich einfach auf mehr Schultern.“ Er glaubt auch, dass sich so das vergleichsweise gute Abschneiden der Hauptschulen bei den jüngsten Anmeldungen erklären lässt. Nachdem zuletzt mehrere Standorte geschlossen werden mussten, kamen diesmal alle fünf Hauptschulen auf die erforderliche Mindestzahl von 18 Anmeldungen. Die Hauptschullandschaft hat sich damit – auf niedrigem Niveau – stabilisiert. Roß: „Es hat sich herumgesprochen, dass die Hauptschule geeignet ist für diejenigen, die sich früh in Richtung Arbeit orientieren.“
Eine etwas andere Erklärung für die sinkende Zahl der Schulabbrecher hat die CDU-Fraktion im Rat. Die Statistik sei vor allem Ausweis der „guten Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe“, so die stellvertretende Vorsitzende Susanne Asche. „Gerade in Stadtteilen mit geringer Bildungsbeteiligung ist es gelungen, durch die Zusammenarbeit der Schulen in Stadtteil- und Bezirkskonferenzen und die Unterstützung der Jugendhilfe mit Ganztagsangeboten und Elternbildungsmaßnahmen tragfähige Unterstützungssysteme aufzubauen.“
In der Tat dürfte es nicht reichen, lediglich die Hauptschulen in den Blick zu nehmen, wenn es um Bildungsabbrecher geht. Die statistische Bezeichnung „Abgänger ohne Hauptschulabschluss“ legt zwar nahe, dass diese Schüler allesamt von der Hauptschule kommen, das ist aber gar nicht der Fall. Mehr als die Hälfte derjenigen, die vergangenes Jahr die Schule abbrachen, waren Förderschüler.
Bildungsforscher: Chance Inklusion
Vor diesem Hintergrund setzen Bildungsforscher Hoffnungen in die Inklusion, also den flächendeckenden gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarf. Das Konzept wird derzeit – auch in Essen – Schritt für Schritt und unter Schwierigkeiten umgesetzt. Am Ende werden Förderschulen allenfalls noch in begrenztem Umfang bestehen.
Das „separierende Förderschulsystem“ in Deutschland sei dringend zu hinterfragen, hieß es 2010 in einer Studie des Essener Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm zu Schulabbrechern. Nötig sei mit Blick auf diese Problematik eine „konsequente Inklusionspolitik und nicht das ‘Aussortieren’ und Trennen von Kindern und Jugendlichen“.