Essen. Christine und Gerd Meiering wollten ihrem Sohn den Besuch der Förderschule ursprünglich ersparen. Doch an der Waldorfschule litt der lernbehinderte Junge. So werfen die Eheleute heute einen kritischen Blick auf die vielgepriesene Inklusion.
Für viele Eltern klingt es wie eine Verheißung, wenn nun (lern)behinderte Kinder das Recht haben, eine Regelschule zu besuchen. Gerd und Christine Meiering aus Fischlaken haben andere Erfahrungen gemacht. Dabei wollten sie anfangs verhindern, dass ihr Sohn Holger eine Förderschule besuchen muss.
Holger ist heute 36 Jahre alt, lebt in einer Wohngemeinschaft und arbeitet betreut in einer Schlossfabrik in Velbert. „Er ist jetzt glücklich“, sagt Mutter Christine Meiering (65). Doch die Debatte um die Inklusion ließ bei ihr und ihrem Mann die Erinnerung an Holgers durchwachsene Schulzeit wach werden.
Durchwachsene Schulzeit
Bis ihr Sohn vier Jahre alt war, hatten sich die Eheleute keine Gedanken über eine mögliche Behinderung gemacht: Holger war motorisch fit, und dass er erst mit drei sprechen lernte, nahmen sie gelassen: „Mein Mann hat selbst erst so spät gesprochen.“ Auch der Kinderarzt attestierte zunächst eine altersgemäße Entwicklung.
Erst im Kindergarten gab es Klagen: Der Junge sei zu zappelig und unruhig. Um seine Konzentration und seine Sprachfähigkeit zu trainieren, gingen die Meierings mit ihm zur Therapie. Dass er es in Schule schwer haben könnte, wurde ihnen allmählich klar: „Aber wir hofften, dass er einen Sonderschulabschluss machen kann.“
Sie zogen eigens von Heiligenhaus nach Heisingen, damit Holger zur Waldorfschule im Stadtwald gehen konnte. Er kam in eine Klasse für „seelenpflegebedürftige“ Kinder mit nur 14 Schülern. „Die konnten nicht sitzenbleiben. Wir dachten, das nimmt ihm den Leistungsdruck“, erinnert sich Gerd Meiering. Ein Trugschluss, wie der 66-Jährige heute resümiert: „Holger blieb nicht sitzen, aber er blieb auf einer Lernstufe, machte kaum Fortschritte. Im Laufe der Zeit merkte er, dass er zu den ganz Schwachen gehört – auch sowas sorgt für Druck.“
Vom Schulabschluss blieb er weit entfernt
Zumal die Mitschüler, die zum Teil normal intelligent, aber verhaltensauffällig waren, den sanftmütigen Jungen ausnutzten, ihn vorführten: „Einmal forderten sie ihn auf: ,Schmeiß Gläser aus dem Fenster’ – und er bekam später den Ärger dafür. Einmal sperrten sie ihn in eine Telefonzelle.“ Leider habe Holger damals nicht von den demütigenden Erfahrungen erzählt.
Und der Lehrer ermutigte sie, Holger auf der Schule zu lassen. „So arbeiteten wir intensiv mit ihm, trichterten ihm Lesen, Schreiben, Rechnen ein. Trotzdem hat er bis heute keinen Zahlenbegriff.“ Er kenne die Ziffern, lerne Liedtexte mühelos auswendig, sei gut orientiert – vom Schulabschluss blieb er weit entfernt. Holger war schon in Klasse 9, als eine neue Klassenlehrerin den Wechsel an eine Waldorfschule für geistig Behinderte empfahl. Als er im Probeunterricht häkeln und basteln sollte, protestierte er: „Ich bin doch nicht im Kindergarten.“ Nun meldeten ihn die Eltern doch an der Comenius-Förderschule in Burgaltendorf an.
Lebenspraktische Dinge gelernt
„Das tat ihm so gut und war eine Erleichterung für uns!“, sagen sie. Holger habe hier lebenspraktische Dinge wie Kochen und Einkaufen gelernt – und seinen Bewegungsdrang ausleben können: „Fußball war an der Waldorfschule verpönt.“ Vor allem hatte er nun die lang vermissten Erfolgserlebnisse: Er konnte hier vieles besser als die anderen.“ Holger Meiering, der sich zwischen Lern- und geistiger Behinderung bewegt, besuchte die Schule, bis er 24 war, wechselte dann in eine Behindertenwerkstatt.
Mit neuem Selbstbewusstsein: Es war für ihn keine Frage, dass er genau wie seine beiden Schwestern in eine eigene Wohnung zieht. Er geht arbeiten, fährt allein Bus, ruft jedes Familienmitglied zum Geburtstag an. Für die Eltern steht fest, dass er sich ohne die Förderschule nie so entwickelt hätte. „Vorher war er immer der Schlechte – da leidet die Persönlichkeit.“