Essen. Sieben junge Menschen mit geistigen oder körperlichen Handicaps ziehen in eine Wohngemeinschaft. Für einige bedeutet das den Auszug aus dem Elternhaus. Das „Integrationsmodell Essen“ macht's möglich.

Kira Leinfels ist aufgeregt und voller Vorfreude. Seit einigen Wochen grübelt die 24-Jährige vorm Schlafengehen, wie ihr Leben künftig aussehen mag. „Was erwartet mich bloß? Ob wir im Haus wohl alle gut miteinander zurecht kommen? Hoffentlich mache ich nicht gleich zu Beginn irgendetwas falsch“, denkt die junge Essenerin von der Margarethenhöhe über das Zusammenleben in der künftigen Wohngemeinschaft (WG)

nach.

Vier Jahre lang weiß sie bereits, dass sie in das frühere evangelische Pfarrhaus an der Wiesenbergstraße 47 in Holsterhausen ziehen wird, wenn es komplett umgebaut ist. Und sie weiß auch: „Wohl kaum einer bereitet sich so lange auf den Auszug von zu Hause vor, wie ich und meine Mitbewohner.“ Doch die WG, die Kira Leinfels nun endlich beziehen konnte und in der sie nunmehr ihre erste Nacht abseits ihrer Familie verbracht hat, ist eine ganz besondere – eine, die ganz auf ihre individuellen Bedürfnisse und die ihrer sechs Mitbewohner ausgerichtet ist. Denn sie ist eine WG für junge Leute mit geistigen und / oder körperlichen Handicaps, getragen vom „Integrationsmodell Essen“.

Mehr Platz als bei Muttern

Zusammen mit ihrer Familie packt Kira Leinfels ihre Kartons aus. Alles hat seinen Platz, so wie in ihrem alten Zimmer. „Nur, dass ich hier viel mehr Platz habe. Das ist merkwürdig für mich. Ich muss mich erst einleben.“ Sehr wichtig ist, dass sie, ohne einen der 20 für sie und ihre Mitbewohner zuständigen Mitarbeiter rufen zu müssen, an ihre Sachen ran kommt. Denn Leinfels sitzt im Rollstuhl, was in der WG aber üblich ist.

„Zwei sind auf den Rollstuhl angewiesen, drei können kurze Strecke ohne laufen, zwei brauchen keinen“, sagt Jan Brummelman von der Hausleitung. „24 Stunden täglich ist jemand da – für den Fall, dass sie unsere Unterstützung benötigen“, betont Brummelman. So helfen er und seine Kollegen, den Haushalt zu bewältigen, bei Behördengängen, der Körperpflege, beim Einkaufen und der medizinischen Betreuung. Bevor das Haus fertig war, musste sehr viel umgebaut werden. „Es galt, hohe Brandschutzauflagen zu erfüllen. Außerdem muss alles den Ansprüchen der Rollstuhlfahrern und Blinden entsprechen“, erinnert sich Pflegefachkraft Susanne Trauten, die auch zur Hausleitung gehört, gut an die Umbauphase.

Ein Raum, um Musik zu machen 

In jedem Zimmer gibt es nun ein eigenes Bad, das Dach wurde komplett ausgebaut, neue Fenster, Türen und Rettungsbalkone installiert. „Der Fahrstuhlschacht wurde in den Boden aus Granitgestein gesprengt, dann kam ein sprechender Fahrstuhl ins Niedrigenergiehaus“, so Trauten. Jeder der 22- bis 29-Jährigen hat 25 Quadratmeter Platz für sich; dazu kommen Küche, Ess- und Wohnzimmer auf 60 Quadratmetern und ein Raum im Keller, in dem die Jungs Musik machen wollen.

Einer von ihnen ist der 22-jährige Marc Petermann aus Rüttenscheid; er trommelt gerne. Auf den Einzug freut er sich schon lange. „Ich kenne viele meiner Mitbewohner aus dem Jugendhaus Buschhütte und aus der Schule“, erzählt er. Wer sich fortan um welche Hausarbeiten kümmert, „müssen wir noch klären“, womöglich beim gemeinsamen Abendessen, das jeden Tag angeboten wird.

Verena Fröhlich.
Verena Fröhlich. © WAZ FotoPool

Eine, die sich schon lange auf ihre neue WG freut, ist Verena Fröhlich: Seit vier Jahren wohnt die 28-Jährige in der WG Auf’m Bögel, doch dort ist sie die Jüngste. „Daher habe ich mich sehr gefreut, als ich vom neuen Haus hörte und davon, dass es nur für junge Leute ist“, sagt sie. Fröhlich will nun erst einmal alle ihre Mitbewohner besser kennenlernen: beim gemeinsamen Kochen, der Gartenarbeit, beim Saubermachen, Fernsehen, Spielen, bei Ausflügen und Urlauben zu siebt.

Integrationsmodell Essen

1971 wird das Integrationsmodell unter dem Motto „miteinander leben lernen“ in Münster als Verein für integrative Freizeit- und Bildungsarbeit gegründet. Ziel ist es, der Isolation von Menschen mit einem Handicap in Großeinrichtungen, Sonderschulen und

Spezialkliniken entgegenzuwirken. Aus diesem integrativen Ansatz ergibt sich die Denkweise, dass Menschen mit Handicaps ein Recht auf ein Leben „im Miteinander“, also in der Gemeinde und ganz normalen Nachbarschaft, haben. Der Gründer, Pfarrer Hartmut Bartsch, bringt diese Idee 1975 nach Essen – damals vor allem fokussiert auf integratives Wohnen. So entstehen 1985 in Haarzopf die erste Wohngruppe für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und in Frohnhausen eine integrative Hausgemeinschaft. 1986 wird das Integrationsmodell Essen eigenständig. „Derzeit erhalten beinahe 160 Personen in ihrer eigenen Wohnung oder in einer der 16 Wohn- oder Hausgemeinschaften Unterstützungsleistungen durch Mitarbeiter unterschiedlichster Professionen“, betont Magdalene Merkel, die beim Integrationsmodell für den Aufbau des Ehrenamts zuständig ist.