Essen. . Die Gewerkschaft Verdi übt scharfe Kritik an prekären Arbeitsbedingungen in den Filialen des Discounters Netto: Personal- und Zeitmangel, unbezahlte Überstunden, Ausbeutung von Auszubildenden, psychischer Druck. Der Discounter wehrt sich und verweist auf den Betriebsrat.

Die Schlange an der Discounter-Kasse ist lang, die Kunden kaufen fürs Wochenende ein. Um mehr im Einkaufswagen zu haben, aber weniger zu bezahlen, zieht es viele in die Discounter. Sie schätzen die Preise, über die Arbeitsbedingungen in den Filialen erfahren sie kaum etwas. Hinter Aldi und Lidl hat sich die Edeka-Tochter Netto Marken-Discount, die 2009 Plus übernahm, beim Umsatz als Nummer Drei etabliert – auch auf Kosten ihrer Beschäftigten, wie es die örtliche Gewerkschaft Verdi der Geschäftsleitung vorwirft.

Seit Anfang des Jahres engagiert sich Verdi, um die Situation für die 385 Beschäftigten und 74 Azubis in den 30 Essener Filialen zu verbessern. Auf eine Petition, die 182 Mitarbeiter an 25 Standorten unterschrieben, habe die Geschäftsführung „völlig unzureichend“ reagiert, sagt Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel. Nun sucht die Gewerkschaft die Öffentlichkeit.

Arbeit, die krank macht?

Im Gespräch mit der NRZ äußerten Kunkel und Mitarbeiter, die anonym bleiben wollen, Vorwürfe, wie sie Anfang September bereits in der ZDF-Sendung „Frontal 21“ dargestellt wurden. So nimmt die Zahl der Krankheitsfälle in den Filialen stetig zu, liegt laut Verdi mittlerweile bei überdurchschnittlich hohen 7,5 Prozent, Filialleiter berichten sogar von mehr als zehn Prozent erkrankter Mitarbeiter. Schuld daran sei der enorme Arbeitsdruck bei Netto. So würden beim Kassieren Zeitmessungen durchgeführt. Wer pro Minute nicht eine Mindestzahl an Produkten scannen konnte, sei zum Rapport bestellt worden. Weitere Vorwürfe: unbezahlte Mehrarbeit, Ausbeutung von Azubis sowie respektloser Umgang mit Beschäftigten. Die Selbstorganisation der Mitarbeiter, die ihre Interessen verteidigen wollten, werde erschwert, Mitarbeiter seien vor der Unterschrift der Petition durch Führungskräfte gewarnt worden.

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„Anstatt mir den ,Scheiß’ am Schwarzen Brett anzusehen, solle ich lieber mehr Einsatz zeigen“, gibt ein ehemaliger Auszubildender ein Gespräch mit der Verkaufsleitung wieder, in dem man ihm eine Woche vor Ende der Probezeit die Kündigung nahelegte. Er habe kein Herzblut für das Unternehmen gezeigt, so ein weiterer Vorwurf. Ein Jahr lang war er als Aushilfe auf 400-Euro-Basis tätig gewesen, dann begann er eine Ausbildung bei Netto. „Ich war Lückenfüller, damit andere Mitarbeiter ihre Überstunden abbauen konnten“, sagt er. Azubis hätten von Anfang an alles können müssen, es habe steter Druck geherrscht: „Durch die Gänge wurde gerannt, nicht gelaufen.“ Er kündigte. „Ich hatte das Gefühl, sonst hätte man mich damals nicht aus dem Gesprächsraum gelassen.“

Im Fokus der Gewerkschaftskritik steht aber nicht nur die Situation der Azubis, sondern auch der geringfügig Beschäftigten, der 400-Euro-Kräfte. „Ich bekam von Netto die Anweisung, diese Kräfte und die Azubis mehr Stunden machen zu lassen“, berichtet eine Marktleitung. Die geringfügig Beschäftigten würden gezielt auch in bestimmten Zeiträumen eingesetzt, um keine Zuschläge zahlen zu müssen, so Verdi. Überstunden seien die Regel, ebenso unbezahlte Vor- und Nacharbeit. Pausen könnten nicht genommen werden, wer sich krank meldet, werde unter Druck gesetzt. „Auf einer Sitzung aller Filialleiter drohte der Regionalleiter, dass mehr Stunden zu Filialschließungen führen könnten“, berichtet eine Essener Marktleitung.

Netto weist Vorwürfe zurück 

„Die Vorwürfe zum Thema Ausbildung weisen wir entschieden zurück“, sagt Netto-Sprecherin Christina Stylianou. Der Ausbildungsplan richte sich konsequent an den Leitsätzen des Berufsbildungsgesetzes und den Vorgaben der Industrie- und Handelskammer (IHK). Ferner nehme Netto in der Discounter-Branche eine Vorreiterrolle bei der Umsetzung einer flächendeckenden Betriebsratsstruktur ein. „Wir arbeiten seit mehr als 18 Jahren bundesweit mit regionalen Betriebsräten zusammen, so dass jeder Mitarbeiter bzw. Auszubildende einen Ansprechpartner auf Betriebsratsseite hat.“

Generell basiere die Personaleinsatzplanung auf jahrelangen Erfahrungen. Die Vorgabe der Stundenrichtlinie orientiere sich dabei an den Arbeitsabläufen und damit dem realen Zeitbedarf für die anfallenden Aufgaben. „Netto legt großen Wert auf einen fairen und offenen Umgang mit seinen Mitarbeitern sowie selbstverständlich auf die Einhaltung der gesetzlichen und tariflichen Vorgaben.“