Essen.

Mit 83 Jahren kommt Ralf Walterscheidt noch gut zurecht. Doch seit er an der Bandscheibe operiert wurde, kann er nicht mehr so lange stehen. Deshalb verlässt er das Haus meist nur noch mit dem Rollator. „Damit fühle ich mich sicherer“. Auch in Bus oder Straßenbahn. Mit seiner rollenden Gehilfe habe er da nur selten Probleme. „Und wenn doch, gibt es meistens Leute, die mir helfen.“

Andere haben kapituliert vor Treppen, Trittstufen oder Busfahrern, die unter Zeitdruck stehen. „In die Straßenbahn komme ich mit meinem Rollator gar nicht erst rein“, erzählt Brigitte Pawlak (79) aus Rüttenscheid. In den Bus traue sie sich nicht. „Kaum ist man eingestiegen, schließen sich die Türen und der Bus fährt auch schon los.“ Wer wie sie selbst unsicher auf den Beinen sei, müsse fürchten zu stürzen.

Für Menschen, die aufgrund ihres Alters oder eine Behinderung nicht mehr so mobil sind, oder auch für solche, die mit einem Kinderwagen unterwegs sind, kann eine Fahrt mit Bus und Bahn zu einer Reise mit Hindernissen werden.

Sünden der Vergangenheit

Reinhard Osterfeld von der Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen, die seit mehr als 40 Jahren einen kritischen Blick auf den Nahverkehr in dieser Stadt wirft, ist schon froh darüber, dass Fahrgäste, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, als solche wahrgenommen werden - auch vom Gesetzgeber, der Nahverkehrsunternehmen zur Barrierefreiheit verpflichtet. Fortschritte, ja, die gibt es. Die Zeiten etwa, in denen Rollstuhlfahrer im Hauptbahnhof mit Lastenaufzügen befördert wurden, weil es keine anderen gab, gehören seit dem Umbau 2010 der Vergangenheit an. Auch die Evag hat so manche bauliche Sünde der inzwischen beseitigt. Nicht nur im Interesse ihrer Kunden, sondern auch aus Kostengründen. Denn je schneller die Fahrgäste einsteigen können, desto höher ist die Reisegeschwindigkeit. von Bus oder Bahn. Ergo: Eine barrierefreie Evag benötigt weniger Fahrzeuge und Personal.

Auch das sei ein Fortschritt: Bei Planungen für Neu- oder Umbau sitzen Vertreter der Behindertenverbände mit am Tisch, nicht zuletzt weil ohne ihr Placet keine Fördermittel mehr fließen, wie Reinhard Osterfeld betont.

Jede fünfte Haltestelle barrierefrei 

Vom selbstgesteckten Ziel, einer Barrierefreiheit von 100 Prozent, ist die Evag aber Lichtjahre entfernt. Nur jede fünfte Straßenbahnhaltestelle genügt diesem Anspruch, immerhin sind 25 der 31 U-Stadtbahnhaltestellen mit Rampen oder Aufzügen ausgestattet. In absehbarer Zeit soll dies auch für den U-Bahnhof Messe/Gruga gelten; mit dem Einbau eines Aufzuges will die Evag noch in diesem Jahr beginnen.

Ein deutlich kostspieligeres Projekt, hat der Rat der Stadt hingegen schon 2011 auf die lange Bank geschoben: den Umbau der Südstrecke nach Bredeney. Fahrgäste müssen auf der Linie 107 weiterhin mit veralteten Bahnen mit Trittstufen vorlieb nehmen, denn moderne Niederflurbahnen können die höheren U-Bahnhaltestellen nicht anfahren. Weil der Umbau mindestens für weitere 15 Jahre auf Eis liegt, schafft die Evag nur 27 Niederflurbahnen an statt 42 wie ursprünglich geplant.

So setzen Kosten- und Spardruck dem Wunsch nach mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr Grenzen. Die Leidtragenden sind die Fahrgäste. Rolf Walterscheidt kommt auch trotz Rollator noch alleine in Bus und Bahn zurecht. Zwei alte Damen aus seiner Nachbarschaft sind hingegen umgestiegen - und nehmen lieber ein Taxi.