Essen. . Am 31. Juli 1962, vor ziemlich genau 50 Jahren, erreichte Essen mit 753.086 Bürgern den Zenit seiner Einwohnerzahl. Von da an ging’s bergab - und eine Talsohle ist immer noch nicht in Sicht.

Das Fernsehprogramm passte 1962 in zwei winzige Zeitungsspalten, der Ost-West-Konflikt hielt die Welt in Atem, der Bundeskanzler hieß Konrad Adenauer und war immer noch der erste der Republik. „Großstadtbienen liefern 1a-Honig“, lautete eine Schlagzeile des Essener Lokalteils vor 50 Jahren, auch der neue Anstrich des Grillo-Theaters war einen Bericht wert. Ein anderer beschäftigte sich mit dem Sommerschlussverkauf, damals offenbar ein richtiger Renner: Die Schaufenster, schrieb die WAZ, waren abends leer gekauft und sogar die Schaufensterpuppen „entkleidet“, hieß es neckisch. Was die Zeitungen an jenem 31. Juli 1962 nicht wissen konnten: Es war stadthistorisch ein denkwürdiger Tag. Mit 753 086 Einwohnern erreichte Essen sein Allzeithoch, die größte Einwohnerzahl, die je gemessen wurde. Von da an ging’s bergab. Essen, die schrumpfende Stadt - heute vor 50 Jahren begann es.

Nicht alle kriegsbedingten Lücken geschlossen

753 086 Menschen, und das ohne Kettwig und Burgaltendorf, die erst später dazukamen - wo haben so viele Menschen gewohnt, da doch trotz Bauboom noch längst nicht alle kriegsbedingten Lücken geschlossen waren? Die Antwort ist einfach: Man war bescheiden. Der Autor dieses Textes etwa, der zehn Tage nach der Essener Epochen-Wende auf die Welt kam, lebte mit seinen Eltern zunächst in einer kleinen „Mansarden“-Wohnung, und für die knapp 20 Quadratmeter Wohnfläche pro Nase, die 1962 statistischer Durchschnitt waren, reichte es nicht. Heute verfügt jeder Essener im Schnitt über 42 Quadratmeter Wohnraum.

Essen 1962 - das war eine Stadt, die bis zur Bedenkenlosigkeit dem Neuen und der Zukunft zugewandt war, der es beim Abreißen und neu Bauen gar nicht schnell genug gehen konnte. Die Losung gab Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt (SPD) 1961 aus: „Nicht Wiederaufbau, sondern Neubau, nach den Merkmalen der Gediegenheit und der Zweckmäßigkeit - nicht der Üppigkeit.“ So betont nüchtern sieht Essen leider stellenweise auch heute noch aus. Neben Unbekümmertheit und Desinteresse in puncto Ästhetik war die Wohnungsnot ein starker Antrieb. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen zu fragen, ob die Äcker etwa in der Oststadt nicht lieber frei bleiben sollten. Sie wurden benötigt, um Platz zu schaffen für die vielen, die in engen Verhältnissen bei ihren Eltern leben oder sogar mit Baracken, abbruchreifen Häusern und Provisorien Vorlieb nehmen mussten. Noch 1964 gaben 21 500 erwachsene Essener an, dass ihre Wohnsituation unbefriedigend sei.

In den 1960er Jahren war Essen noch eine junge Stadt 

Baulich noch brachialer ging man beim Verkehr vor. Zu Anfang der 1960er Jahre schlug die Stadt - nach eigenen Plänen und auf eigene Rechnung! - den Ruhrschnellweg durch das Essener Weichbild. Gnadenlos musste weichen, was diesem Bild von Zukunft widersprach. Aufgemuckt hat, soweit bekannt, keiner.

Essen 1962 - das war auch eine junge Stadt. 11 155 Geburten wurden vor 50 Jahren gezählt, 2011 waren es nicht einmal halb so viele. Nur 2737 Essener waren damals 85 und älter. Nur Ältere wissen noch, wie eine Stadt voller Kinder aussieht, wie sie sich anhört. Der demografische Wandel und die Abwanderung gerade junger Familien hat ein komplett neues Bild geschaffen - nicht nur in Essen, aber hier besonders.

Neueste Statistik

Nach der neuesten, vom Amt für Statistik und Wahlen veröffentlichten Bevölkerungszahl hatte Essen Ende Juni 2012 noch 569 754 Einwohner. Rechnet man Kettwig und Burgaltendorf heraus - nur dann stimmt streng genommen der Vergleich mit 1962 - sind es 542 667. Demnach leben auf dem Essener Stadtgebiet von 1962 heute über 210 000 Einwohner weniger. Ein gewaltiger Aderlass. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Denn die Entwicklung, die heute vor 50 Jahren begann, hält unvermindert an.