Essen. . Die Stadt hat sich vom Karnaper Mathias-Stinnes-Stadion getrennt, das 1950 erbaut, sechs Jahre später das erste Fußball-Länderspiel einer deutschen Frauen-Nationalmannschaft erlebte und für Bergbau- und Fußballgeschichte im Essener Norden steht .

Wie oft er hier auf dem Rasen gestanden hat? Henner Bodden (73) schaut durchs Stadionrund: „Das weiß ich schon gar nicht mehr, in manchen Jahren bestimmt jeden Tag.“ Ali, der eigentlich Abdelkhalek Andalouss (52) heißt und deshalb von allen Ali genannt wird, blickt nun auch etwas wehmütig über das Grün: „Am Wochenende war hier das letzte Fußballturnier der Gehörlosen. Am Abend haben sie ihre Pokale eingepackt und mich zum Abschied alle umarmt. Das hat weh getan.“ Nein, heute will er nicht traurig sein, hat er sich vorgenommen: „So ist das eben, alles verändert sich.“ In der Tat: Für Ali ist es der letzte Tag im Mathias-Stinnes-Stadion an der Arenbergstraße in Karnap, nach 16 Jahren als Platzwart. Es waren nicht die schlechtesten: Seine vier Kinder hat der gebürtige Marokkaner hier großgezogen.

Sportstätte mit bewegter Geschichte

Für Henner Bodden war das Stadion sein Leben, sein fußballerisches allemal: Erst als Knirps, dann als Spieler, später als Obmann. Heute wird für immer Schluss sein, still und leise, ohne Abschiedsfeier. Ali wird zum letzten Mal das große Tor abschließen. Es ist das Ende einer kleinen Stadion-Legende, nein, bestimmt nicht vergleichbar mit der alten Hafenstraße, aber eben doch eine 87-jährige Sportstätte mit bewegter Geschichte.

Für diese wunderschöne Sportarena hat keiner Unterschriften gesammelt. Der Masterplan Sport sah keine Verwendung mehr vor für Mathias-Stinnes, der jährliche Unterhalt kostete zuletzt gut 115.000 Euro. Zudem hat das Stadion im Laufe der Jahrzehnte einiges an Patina angesetzt, das Kraut blüht auf den Tribünen, immer wieder lösen sich Steine, Armierungen muss Ali jede Woche „wegflexen“, eine Sanierung der sanitären Anlagen und der Zuschauerränge wäre dringend geboten, für die Stadt aber kaum zu stemmen. Da nutzt es nicht viel, dass der Naturrasen fast Teppichqualität hat, der angrenzende Aschenplatz deutlich besser ist als beispielsweise an der nahen Lohwiese, auf der an manchen Tagen die Kinder und Jugendlichen in unerträglichen Staubwolken stehen.

Noch schmücken Wimpel und Pokale den Jugendraum

Der FC Karnap hat sich schon lange verabschiedet, zuletzt nutzten die Rugbyspieler den Platz, dazu die Jugend-Footballer von den Cardinals, die Gehörlosensportler hatten hier lange ihre sportliche Heimat, früher auch mal die Jugend von RWE. Ein Wimpel mit den Unterschriften aller Spieler zum 90-jährigen Jubiläum schmückt noch den Jugendraum in der alten, windschiefen Holzbaracke, der „Grün-Weiß Horst-Süd ‘77“ hat einen Pokal im Regal stehen gelassen, beides will Ali als Andenken mitnehmen.

Dabei hätte es allein diese Hütte verdient, erhalten zu bleiben. Die Hütte, in der einst der Hauer Hennes Sittek eine neue Bleibe und eine Arbeitsstelle abseits der Zeche fand, in der er mit seiner Frau lebte und zwei Kinder großgezogen hat, mit einem Klo in der Mitte, dafür aber ohne Bad. Das war wenige Jahre nach dem Krieg, und Sittek froh, überhaupt die Stelle bekommen zu haben und nicht Untertage vor Kohle zu müssen.

"Manchmal war der Gestank härter als das Training" 

Die Zeche Mathias Stinnes bestimmte in den ‘50er Jahren den Herzschlag im Norden der Stadt, so wie vielerorts zwischen Kettwig und Karnap die Zechen das Leben prägten. 1950 kaufte das Bergwerk den Grund und ließ den dortigen Sportplatz von 1925 in ein repräsentatives Stadion umbauen, mit Tribüne und Stehplätzen für knapp 20.000 Zuschauer, mit einem Sportheim, über das später noch ein Casino gesetzt wurde, damit sich die Stinnes-Bosse mit Zigarre und Pils in der Hand das Spiel ansehen konnten. Heute würde man das eine Loge nennen. Dass der Platz unterhalb des mächtigen Kohlekraftwerks mit seinen riesigen Schornsteinen lag, dass sich auf der anderen Seite der Arenbergstraße das Tanklager erhob, störte nicht wirklich.

Schornsteine, Industrie, das gab in der Nachkriegszeit Arbeit und Brot. Und Spiele: Jede Zeche unterhielt einen Fußballverein, im Stinnes-Stadion war das der TSG Karnap 07, in der Saison 1956/’57 immerhin eines der Gründungsmitglied der Verbandsliga Niederrhein, damals die dritthöchste Spielklasse in Deutschland. Die TSG war eine gute Adresse, zu den Spielen gegen Helene oder BVA kamen manchmal 10.000 Zuschauer, erinnert sich Henner Bodden. Sehr viel mehr Einwohner hatte Karnap damals auch nicht.

Lage hat immer noch gewisse Nachteile

Die Mannschaft war natürlich bei Mathias Stinnes angestellt, gute Fußballer durften Übertage bleiben oder zur Glashütte wechseln. Schichtarbeit blieb den Jungs erspart: Nachmittags ging’s auf den Platz. Das war nicht an allen Tagen etwas für schwache Mägen: „Manchmal war der Gestank härter als das Training“, sagt Henner Bodden. Auch heute müffelt’s manchmal von der Kläranlage Bottrop-Wellheim herüber, meint Ali, „und wenn es sehr warm ist, dann sind hier ganz plötzlich ganz viele Fliegen“. Die Lage hat immer noch gewisse Nachteile, obwohl Henner und Ali meinen, dass man sich daran schon gewöhne. Eher so eine Art Heimvorteil.

Der 23. September 1956 gilt immer noch als der große Tag an der Arenbergstraße: Das erste Länderspiel einer deutschen Frauen-Fußballnationalmannschaft, ausgerechnet im Mathias-Stinnes-Stadion. Vor 18.000 Fußballfans siegt Deutschland 2:1 über die Niederlande. Darüber freuten sich die Fußball-Fans schon damals. Der DFB hatte das Spiel verboten, doch das Stadion war Zechengelände, also privat.

25.000 Mark Pacht

Die Stadt kam ebenfalls Mitte der ‘50er Jahre ins Spiel: Das „Stadtamt für Leibesübungen“ pachtete die Anlage. Damit begann ein schwieriger Weg zwischen Besitzer und Pächter, wobei es nicht nur um die Pacht ging, die anfangs bei jährlich 25.000 Mark lag, sondern immer häufiger um den Zustand der Anlage. Vor allem die Baracke sorgte für Ärger: Bei Bergwerksdirektor Broche hatte sich die Stadt erstmals beschwert, der einsetzende Winter mache es geradezu unerträglich: Die unbeheizte Umkleidebaracke biete kaum Platz, zum Waschen stehe nur kaltes Wasser bereit, die Spieler des BV Altenessen seien umgekleidet angereist, um nur nicht die Baracke nutzen zu müssen, und derlei Klagen „hochachtungsvoll“ mehr. Im Ton freundlich, aber verbindlich, forderte die Stadt Nachbesserungen. Es wurde schlechter: Eine Dampflok, die das Kohlekraftwerk mit Brennstoff beliefern sollte, entgleiste und rutschte in die Tribüne. Abbruchreif, urteilte die Stadt. Und obwohl der Verein bei Heimspielen die marode Anlage von Schäferhunden bewachen ließ, „stürmten bei Regen in der zweiten Spielhälfte rund 600 Zuschauer die Tribüne“.

Das Stadion war mittlerweile von der Veba Glas übernommen worden, der Streit blieb. Als die Stadt die Tribüne einreißen lassen wollte, erfuhr dies die Glashütte aus der Tageszeitung. Dazu hatte das Ordnungsamt auch noch ein „Zwangsgeld“ gegen die Veba verfügt: 100 Mark. Veba-Glas-Direktor Häbel äußerte telefonisch sein „äußerstes Befremden“. Der Niedergang des Bergbaus mit all seinen Problemen war im Stinnes-Stadion zu greifen. Die Anlage wurde in den ‘70ern immer baufälliger. Zuletzt verhandelte die Stadt mit der Veba, selbst die Renovierungen vorzunehmen. Am Ende wollte die Veba auch das alte Sportheim abstoßen, nur für eine Weihnachtsfeier lohne sich das Haus nicht.

Alle Pläne scheiterten 

Im Boris-Becker-Boom erlebten immerhin die Tennisplätze am Rande der Anlage einen kleinen Boom. Doch als der Gerscheder SV die Anlage ausbauen wollte, hatte schon RWE die Hand auf dem Stadion. Bereits in den ‘80er Jahren gab es Pläne, das Kraftwerk, das auf Hausmüll umgestellt hatte, zu erweitern, dafür die Sportplätze oder die benachbarte Siedlung abzureißen.

Viele Pläne gab es für die Anlage, die allesamt scheiterten: Egal ob Reiterhof, Alten- oder Jugendtreff, ein Haus des Sports, ein großes türkisches Zentrum oder eine Gastronomie – die Zukunft des riesigen Areals im Schatten des Müllheizkraftwerkes blieb ungewiss, oft eben auch, weil RWE die Erweiterungsfläche nicht hergeben wollte. Das baufällige Sportheim wurde schließlich vor fünf Jahren abgerissen. Mit Schreiben vom 5.12. 2011 beendete die Stadt letztendlich das Pachtverhältnis.

RWE wird das Stadion am Montag übernehmen, ohne selbst zu wissen, was es damit eigentlich soll: „Ehrlich gesagt brauchen wir keinen Sportplatz.“ Man würde gern wieder vermieten, nicht langfristig, „wir wissen ja nicht, was kommt“. Aber bei den Kosten? RWE wird nur das nötigste tun, ansonsten wird das Stadion gesichert – und sich selbst überlassen. Auf der Fläche, wo einst das Sportheim stand und die Tennisplätze, ist ein kleiner Pappelwald gewachsen. Ali muss da schmunzeln: „So wird es hier bald überall aussehen.“ Ein Wald für ein Stadion. Bald nur noch überwucherte Geschichte.