Essen. Für Kitze wird die Heuernte zur Lebensgefahr, wenn die Ricke sie im Gras abgelegt hat. Die tierschutzgerechte Frühmahd, wie Jäger die Kitz-Rettung nennen, ist im Laufe der Jahre mit ständig größer werdenden Landmaschinen und schneller fahrenden Traktoren immer wichtiger geworden.
Aufgeregt läuft Hardy über die Heuwiese, den Kopf hält der große braune Jagdhund hoch, reckt die Nase nach oben. Herrchen Sven Kappert schickt den Pointerpudel quer über die Fläche an der Rodberger Straße in Kupferdreh, damit der Vierbeiner Rehkitze anzeigt. Jagen soll er den tierischen Nachwuchs aber nicht, sondern dem Jäger zeigen, wo ein Tier im hohen Gras versteckt liegt.
Das erfordert eine ganz feine Nase und enormen Gehorsam. Findet Hardy ein Kitz, bleibt er stehen. Dann bringt Sven Kappert das Rehkitz in Grasbüscheln geschützt vor menschlichem Geruch in Sicherheit. Denn die Heuwiese gehört Landwirt Clemens Wortberg (57), und der steckt jetzt bei dem sonnigen und trockenen Wetter mitten in der Heuernte.
Der erste Schnitt auf den Wiesen fällt genau in die Zeit, in der Ricken Nachwuchs bekommen. Der bleibt mal im Gras, mal im Wald zurück, erklärt Hans-Bernhard Mann (62), Vorsitzender der Kreisjägerschaft. Die Ricke setzt ihr Kitz dort ab, wo es ruhig ist. Also haben Jäger und Landwirte Strategien entwickelt, um es den Tieren kurz vor der Heuernte ungemütlich zu machen und sie so vor dem sicheren Tod durch das Mähwerk zu bewahren. Gleichzeitig appellieren sie an Spaziergänger: „Kitze nie wegtragen“. Wer besorgt ist, solle Polizei oder Untere Jagdbehörde informieren.
Wettlauf mit dem Wetter
Am Abend bevor Clemens Wortberg mäht, stellt er Stangen mit Flatterband auf. „Für Rehe bedeutet das Unruhe und Veränderung.“ Daher holen sie ihren Nachwuchs entweder nachts ab oder lassen ihn erst gar nicht dort. Steigt der Landwirt auf seinen Traktor und beginnt die Arbeit mit dem Mähwerk, haben die jungen Tiere im Gras keine Chance mehr. Ob oder wie oft er „Kitze ausgemäht“ hat, kann er nicht sagen.
Die tierschutzgerechte Frühmahd, wie Jäger die Kitz-Rettung nennen, ist im Laufe der Jahre mit ständig größer werdenden Landmaschinen und schneller fahrenden Traktoren immer wichtiger geworden, sagt Mann. Daher arbeiten die Jäger im gesamten Stadtgebiet mit Revierpächtern und Landwirten zusammen. Viele seien selbst Jäger wie Clemens Wortberg oder zumindest Jagd-affin. Sie helfen motiviert mit. „Wenn dann aber die Witterung stimmt, heißt es für uns nur noch Hektar machen“, beschreibt er Bauer seine stressige Arbeit, die auch einen Wettlauf mit dem Wetter bedeutet. Umso wichtiger ist es, dass in der Hektik kein Kitz mehr im Gras verborgen liegt.
Elektrische Warnsysteme am Traktor
Eine weitere Methode, diese dort zu vertreiben: Haare beim Frisör holen und am Abend vor der Mahd im Gras verteilen. Um die Ricken abzuschrecken, sagt Wortberg: „Menschliche Witterung mögen sie nicht.“ Manche Landwirte hätten elektronische Warnsysteme am Traktor, die Wärmekörper anzeigen und so als Wildretter dienen.
Den Rehböcken hilft das zurzeit nicht, die Jagdzeit hat begonnen, ab September werden auch die Ricken bejagt. Beim Rehwild stehen im Jahr etwa 200 Tiere auf der Jagdstrecke. „Wir schöpfen das ab, was zuwächst“, sagt Hans-Bernhard Mann. Das Rehwild habe keine natürlichen Feinde wie Luchs oder Wolf. Und ein zu großer Rehwild-Bestand verhindere die Verjüngung des Waldes, weil Rehe nachwachsende Triebe auffressen, sagt Wortberg, der nun mähen kann: Hardy hat kein Kitz gefunden.