Essen. . Es war eine Grenzfrage: Sollte der 25-Jährige mit elf Vorstrafen ins Gefängnis, weil er wieder einmal schwarz mit der Straßenbahn gefahren war? Nahe lag es. Amtsrichter Ertan Güven entschloss sich dennoch zur Milde, gewährte dem Angeklagten „letztmals eine Chance“. Fünf Monate Haft gab er ihm – und Bewährung.

Den Ausschlag mag die Lebensgeschichte des Schwarzfahrers gegeben haben, an die Bewährungshelfer Heinz Elwenholl am Donnerstag im Prozess erinnerte: „Er kommt aus einem Elternhaus, das man kaum als solches bezeichnen möchte.“ Bundesweit „Berühmtheit“ habe die Mutter des Angeklagten erlangt, als sie 1998 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Als Leiterin einer Drückerkolonne folterte und ermordete sie einen jungen Mann, wusste Elwenholl zu berichten. Und der Vater? „Saß zwölf Jahre wegen Raubes.“

Das Kind schlug sich alleine durch

Als Kind musste der Angeklagte sich durchschlagen, zog mit Drückerkolonnen und Schaustellern durch Deutschland. Elwenholl sprach die elf Vorstrafen – hauptsächlich Diebstähle, Drogenschmuggel, Beleidigung und Schwarzfahren – mit geringen Strafen an: „Angesichts seiner Biografie erstaunt es, dass er sich nur im Bereich der Kleinkriminalität bewegt hat.“

Richter Güven muss sich um die aktuellen Probleme kümmern. Denn der eigentlich freundlich wirkende Hartz-IV-Empfänger vor ihm neigt dazu, den Kopf in den Sand zu stecken und sich den Anforderungen des Lebens zu entziehen. Zum Bewährungshelfer hielt er nur sporadisch Kontakt, beging auch in früheren Bewährungszeiten neue Straftaten und erfüllte die Auflage aus einem der letzten Urteile nicht, 100 gemeinnützige Arbeitsstunden abzuleisten. Seit zwei Jahren hätte er dazu Gelegenheit gehabt, aber irgendwie kamen Arbeit und er nicht zusammen.

"Es liegt an Ihnen, den Kreis zu durchbrechen"

Mit Haschisch, LSD, Pilzen und Amphetaminen versucht er wohl, aus der Realität zu fliehen. Jetzt will er dieses Problem erstmals mit einer Therapie angehen. Aber den Besprechungstermin in einer Klinik hat er natürlich erst am kommenden Montag. Richter Güven redet ihm ins Gewissen: „Ihre Familie ist nicht ganz einfach, sicher. Aber es liegt an Ihnen, den Kreis zu durchbrechen und Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen.“

Er spricht die Logik der Strafjustiz an: „Zuerst versucht man es mit Geldstrafen. Die haben Sie aber nicht sonderlich beeindruckt. Dann wird es härter.“ Natürlich handele es sich um Kleinkriminalität, sagt Güven: „Aber Kleinvieh macht auch Mist. Irgendwann ist das Maß voll.“ Trotzdem habe er „mit Bedenken“ Bewährung gegeben. Damit das Urteil den Angeklagten auch wirklich beeindruckt, hat er ihm weitere 100 Arbeitsstunden auferlegt. Da lacht der Angeklagte spontan.