Essen. . In den Kliniken Süd sind binnen neun Monaten fünf Babys gestorben. Gutachten lassen vermuten: eine Laune der Statistik. Experten-Duo aus Aschaffenburg bescheinigt den Kliniken, nach allen Regeln der medizinischen Kunst gearbeitet zu haben.

Wenn sie heute von elf bis vier zum Tag der offenen Tür nach Werden bitten, dann steht neben allerlei Gesundheits-Checks auch „Babyfernsehen“ auf dem Programm: Schwangere können dabei in der gynäkologischen Ambulanz der Kliniken Essen Süd an der Propsteistraße dreidimensionale Bilder von ihrem Nachwuchs machen lassen – ein hoffnungsfroher Blick in die Zukunft jenes neuen Lebens, das da im Bauch schlummert.

Nur eine Laune der Statistik?

Dem Geburtshilfe-Team des Werdener Doppelkrankenhauses mag dies helfen – gegen das deprimierende, ohnmächtige Gefühl beim Blick zurück. Denn in den neun Monaten zwischen Oktober 2010 und Juni 2011 sind dort nicht weniger als fünf Säuglinge verstorben. Keine tödliche Serie wegen unberechenbarer Keime, sondern Einzelfälle, sagen die Verantwortlichen.

Doch obwohl unabhängige ärztliche Gutachten offenbar Entlastung verschaffen, haben sie in Werden an diesen Einzelfällen immer noch zu knacken – weil der Tod zwar auch in einem Krankenhaus zum Alltag gehört, keineswegs aber auf der Säuglingsstation, und schon gar nicht in dieser Häufung. War der fünffache Tod im Babybett nur eine Laune der Statistik?

Zwei Dutzend Baby-Tode

Er lässt zumindest all jene aufhorchen, die das Zahlengerüst vom Leben und Sterben zwischen Karnap und Kettwig kennen: Rund 4.600 bis 4.800 Geburten pro Jahr stehen gut 7300 Todesfälle gegenüber, wobei hier jeweils nur Personen mit Hauptwohnsitz in Essen eingerechnet sind. Wenn man von den Totgeburten absieht, beschränkt sich die Zahl der gestorbenen Babys auf rund zwei Dutzend Kinder. Und keinen einzigen Todesfall hat Professor Ralf-Dietrich Müller, der Ärztliche Direktor der Kliniken Essen Süd, in den ersten sechs Jahren auf diesem Posten registrieren müssen.

Dann kam der Oktober des vorvergangenen Jahres, und alles wurde anders: Bis Juni 2011 zählten die Klinken Essen Süd, die vergangenes Jahr einen Sprung auf 570 Geburten schafften, fünf Todesfälle: Ein Baby kam mit einer kompletten Herz-Fehlbildung zur Welt und starb noch am gleichen Tag, ein Säugling litt unter einer Lungen-Fehlanlage und überlebte trotz einer mehrere Monate dauernden intensiv en Therapie nicht. Ein Kind kam während eines Notkaiserschnitts tot zur Welt, und auch zwei weitere Babys waren nicht auf Dauer lebensfähig: Sie wurden drei Wochen lang in auswärtigen Kinderkliniken behandelt, bevor die intensiven medizinischen Maßnahmen mit dem Segen der Eltern und der Ethikkommission des Krankenhauses eingestellt wurden. Sie schliefen zu Hause friedlich ein, das eine nach zwei Tagen, das andere Baby nach drei Wochen.

Machen wir was falsch?

Ob man es dem Geburtshilfeteam in jener Zeit angemerkt hat? In den Kliniken jedenfalls waren sie wie paralysiert, suchten Beistand bei Seelsorgern genauso wie bei Ärzten: „Wir waren ausnahmslos sehr getroffen und sehr betroffen“, ringt Professor Müller als Ärztlicher Direktor noch heute um Worte. Denn eine entscheidende Frage stand im Raum: Ist das die Macht des Schicksals, oder machen wir was falsch? Schon nach den ersten Fällen wurde geforscht, hausintern und mit den Partnern.

Nach dem dritten Fall suchte man externe Gutachter. Als die in Aschaffenburg gefunden waren, zählte man Todesfall Nr. 4, den fünften musste Müller sogar nach Auftragserteilung noch nachmelden.

Nach Fehlern gesucht - Begutachtet und für korrekt befunden 

Mit banger Erwartung haben sie in Werden nach eigenen Fehlern gesucht – und waren über das Ergebnis erst einmal erleichtert, denn „wir haben nichts finden können“, beteuert Dr. Katja Fischer, die Leitende Ärztin der dortigen Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie. Von Anfang an war jedoch klar, dass man sich aufs eigene Urteil nicht würde verlassen wollen. Es gibt schließlich so etwas wie Betriebsblindheit, und „wir haben schließlich in keiner Weise ein Interesse daran, etwas unter den Teppich zu kehren“, sagt Christian Kemper, einer der beiden Geschäftsführer der Kliniken Essen Süd.

Über Regine Cramer, eine Fachanwältin für Medizinrecht aus der Holsterhauser Rechtsanwalts-Kanzlei Schmidt, von der Osten & Huber suchte man unabhängige Gutachter und fand sie für den geburtshilflichen Teil in Professor Dr. med. Alexander T. Teichmann, Chefarzt am Klinikum Aschaffenburg. Den kinderärztlichen Part übernahm Dr. Christian Wieg, Leitender Arzt der Abteilung für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, am gleichen Hospital. Die beiden Gutachten, die seit September 2011 vorliegen, bescheinigen den Kliniken Essen Süd „sämtliche Abläufe korrekt eingehalten“ zu haben, wie der Ärztliche Direktor Professor Ralf-Dietrich Müller mit hörbarer Erleichterung betont: „Es hat auf unserer Seite keine Versäumnisse und keine Fehlentscheidungen gegeben.“

Es bleibt das Geraune

Einsicht nehmen durfte die NRZ in die Gutachten nicht – mit Verweis auf den Datenschutz, die ärztliche Schweigepflicht und die immer noch mögliche Geltendmachung von Schadensersatzforderungen. Immerhin, allenfalls in einem Fall steht Letzteres im Raum, ein Verfahren vor Gericht ist laut Anwältin Cramer nicht anhängig.

Ob ihnen das über die deprimierenden Todesfälle hinweghilft? Man hat zumindest den Obleuten für Gynäkologie in Essen wie im angrenzenden Velbert erleichtert Rede und Antwort stehen können und auf die entlastenden Gutachten verwiesen, dass alle Regeln der medizinischen Kunst beachtet worden waren.

Das bedrückende Gefühl aber ist geblieben – und im Umfeld des Krankenhauses manches Geraune: Es gibt Ärzte und Hebammen, die warnen heute noch „sicherheitshalber“ vor einer Geburt in Werden. Dabei ist die unheimliche Todesserie gerissen: Kein Fall seit Juni 2011, nichts. Es ist dies die andere, die gute Seite der Statistik, die sie in der Klinik im Süden der Stadt vielleicht auch ein wenig zusammengeschweißt hat: Die Mitarbeiter konnten sich geschulten Trauma-Therapeuten und Trauerbegleitern anvertrauen, Kurse in der Reanimation machen neuerdings Ärzte und Hebammen zusammen, weil man allen gutachterlichen „Freisprüchen“ zum Trotz irgendetwas anders machen wollte als vorher.

Und dann war da ja auch noch der Brief einer betroffenen Mutter, die sich trotz allem bei der Leitenden Ärztin für die Betreuung bedankte. Eine andere Mutter, die ihr Baby verlor, ist wieder schwanger und will ihr Kind auf jeden Fall in Werden bekommen. Katja Fischer versucht sich an einem Lächeln: Sie weiß, dass dies alles andere als selbstverständlich ist.