Essen. Vier Männer aus Essen (70, 59, 59,51) sollen bundesweit Senioren mit dem „Kripotrick“ bestohlen haben. Wegen bandenmäßigen Betrugs stehen sie vor dem Landgericht. Dort reden die ehemaligen Wanderzirkuskinder gern über ihre schillernden Lebensläufe, zur Sache sagen sie aber nichts.
Wenn man Gründe suchen würde, bei Kindern für eine Schul- und Berufsausbildung zu werben, so fände man sie wohl an diesem Tag im Essener Landgericht auf der Anklagebank: vier ältere Herren, fein gemacht im Anzug, deren schillernde Lebenswege sie quer durchs Land führten, aber nie in eine gesicherte Existenz. Heute leben sie von der Freundin, von Hartz 4, von irgendwas. Haben sich deswegen die um mehrere Ecken verwandten Essener Axel H. (70), Paul S. (59), Petro S. (59) und der Mannheimer Tino B. (51) im Sommer 2010 getroffen, um, wie die Staatsanwaltschaft ihnen vorwirft, als „Bande“ alte Menschen in ihren Wohnungen abzuziehen?
Als falsche Polizisten sollen sie in Leipzig und Ludwigshafen Senioren um ihr Geld gebracht und bis zu 30.000 Euro unter sich aufgeteilt haben. Zur Tat schwiegen zwei der drei Angeklagten am Freitag zunächst. Zwei weitere, der mutmaßliche Drahtzieher Axel H. und sein Vetter, Paul S., wiesen jede Schuld von sich.
Unerlaubter Waffenbesitz und Wohnwagen-Diebstahl
Es klingt zunächst nach kurzem Prozess. Es liegen Geständnisse vor, die Staatsanwältin verliest den „Kripotrick“, den man so oder in Varianten kennt. Axel H. soll im Mai 2010 in Ludwigshafen einen 83-jährigen Uhrenhändler auf der Straße angesprochen haben, ihn in ein Gespräch verwickelt und um 3000 Euro Darlehen gebeten haben. Dadurch soll er erfahren haben, dass der alte Mann 21.000 Euro daheim aufbewahrt. Zwei seiner Kumpels sollen dann als falsche Kripobeamte das Geld „beschlagnahmt“ haben, um es auf der Suche nach einer rumänischen Bande „kriminaltechnisch“ zu untersuchen. Nach ähnlichem Muster versuchten sie es erfolglos bei einer alten Dame in Leipzig und sollen ein Seniorenpaar, ebenfalls in Leipzig, um 1600 Euro erleichtert haben. Zusätzlich steht unerlaubter Waffenbesitz oder Diebstahl eines Wohnwagens im Raum.
So weit die Vorwürfe. Doch die Betrügereien, die sie begangen haben sollen, werden für eine kurze Zeit zur Nebensache, als die Männer aus ihrem Leben erzählen, aus einer Welt, die so gar nichts gemein hat mit der nüchternen Atmosphäre im Gerichtssaal, und aus einer Zeit, als es noch Hausierer gab, fahrende Volksbühnen, Marionettenspieler, Wanderzirkusse.
Mit Wandertheater und Marionettenbühne durchgeschlagen
Hier sitzen vier alt gewordene Zirkuskinder auf der Anklagebank. Ihre Lebenswege waren von Geburt an vorgezeichnet, und keiner hat es wohl je leicht gehabt. Sie alle teilen das gleiche Schicksal, keinen bürgerlichen Beruf gelernt zu haben, sehr wohl aber, wie man sich durchschlägt.
Axel H.’s Eltern sind Artisten, die Mutter flieht 1944 mit sechs Kindern aus Schlesien nach Bayern, dort schlägt sich die Familie mit Wandertheater und einer Marionettenbühne durch. Das Zirkuskind geht sechs Jahre in diverse Schulen, dann ist Schluss. Als der Zirkus nicht mehr läuft, wird Axel H. Hausierer, zieht mit Topfsets von Tür zu Tür, um sie zu verkaufen. Oder er macht Musik, Gitarre, Akkordeon, Schlagzeug in einer Band.
Zum Teil jobbt die Familie beim Wanderzirkus und Volkstheater des Onkels S., Vater des kleinen Vetters Paul. Die Familie mit jüdischen und Sinti-Wurzeln hat das KZ Mauthausen überlebt und tingelt mit Stücken wie „Die Christen aus Oberammergau“ durch die Kleinstädte der 50er und 60er-Jahre. Paul S., geboren 1952, hat als Junge die Schule nur als Durchgangsstation erlebt, auch er hat keinen Abschluss, keine Ausbildung. Er muss als 13-jähriger Knecht die Pferde des Stiefvaters hüten, wird mit 17 Musikclown, Artist und Bodenakrobat, verkauft dann Trödel, den Bauern ihm auf der Durchreise schenken, bringt sich selbst Gitarre- und Bassspielen bei und singt Schlager- und Operetten auf Schaustellerbällen - zwischenzeitlich sogar in der Band des namhaften Sinti-Jazzers Schnuckenack Reinhardt. Paul S. endet als selbstständiger „Steinreiniger“. Heute bezieht er Hartz IV.
„Bis das Fernsehen uns das Geschäft kaputt gemacht hat“
Petro S. – die Eltern haben ein Wandertheater, gehen später mit dem „Verkehrskasper“ in die Schulen zu den I-Dötzchen, „bis das Fernsehen uns das Geschäft kaputt gemacht hat“. Kaum Schulbildung, aber er kann Gitarre spielen, Trödel verkaufen, Lodenjacken an der Tür feilbieten oder Haushaltswaren oder Töpfe, ebenso wie Tino B., der als Jüngster gerade mal vier Jahre Schulzeit aufweisen kann.
Doch so freigiebig die Männer aus ihrem Leben erzählen, so wortarm sind die Angaben zur Sache. Axel H. lässt durch seinen Anwalt ausrichten, dass sein erstes Geständnis auf einem Missverständnis beruhe. Es habe geheißen, wenn er die Tat nicht zugebe, komme er nicht aus der Untersuchungshaft frei. Deshalb ziehe er das Geständnis nun zurück. Der Anwalt von Tino B. verweist auf familiäre Bindungen, weshalb sich sein Mandant zunächst zurückhalte. Paul S. schließlich lässt über seinen Verteidiger jede Tatbeteiligung zurückweisen, da er woanders gearbeitet habe und dies auch belegen könne.
Mindestens drei Prozesstage sind terminiert. Bandenmäßiger Betrug kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden.