Essen.
Homosexuell oder nicht? Friedrich Alfred Krupp war der erste Prominente überhaupt, der Opfer eines neuen Phänomens wurde: dem medialen Anprangern einer Privatsache. Auf der geliebten Insel Capri entschied sich sein Schicksal.
Schillernde Menschen waren die Krupps fast alle, aber keiner hatte so viele Facetten wie Friedrich Alfred Krupp. Aufgewachsen als Sohn eines starken, erfolgreichen, herrischen Vaters - was noch selten ein Vergnügen war - entwickelt er sich dennoch zur großen Unternehmerpersönlichkeit, zeigte in vieler Hinsicht Beweglichkeit, wo der Vater erstarrt war. Die Chancen, die das wirtschaftlich fortschrittsgläubige und politisch konservative Kaiserreich bot, nutzte Krupp virtuos und entschlossen. Seine kühnste Gründung, das Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen, hatte Bestand bis in die 1990er Jahre, als es unter Umständen stillgelegt wurde, die deutsche Sozialgeschichte schreiben sollten.
Krupp war ein „Wilhelminer“, der aber auch eine andere Seite hatte. Im Gegensatz zum harten Vater, war „Fritz“ eher weich, liebenswürdig, menschenfreundlich, bisweilen gutgläubig. Nirgendwo sollte das klarer werden als beim Skandal, der sich um die Insel Capri rankt. Ein Skandal, der Krupps frühen Tod zur Folge haben sollte.
Schon in seinen späten Dreißigern entflieht Friedrich Alfred Krupp immer öfter seinem Essener Schreibtisch, den er ebenso bescheiden wie symbolträchtig im Stammhaus hat aufstellen lassen. Capri im Golf von Neapel ist sein Traumziel. In erster Linie widmet sich „Fritz“, von Jugend an naturwissenschaftlich interessiert, dort der Erforschung der Meeresfauna, einer Disziplin, der er leidenschaftlich verbunden ist. Krupp besitzt ein Laborschiff und unterstützt in Neapel das erste Meeresforschungsinstitut der Welt.
Das Klima nützt seiner angeschlagenen Gesundheit, und er liebt Land und Leute. Der Industrielle fällt vor allem durch sein Mäzenatentum auf. Er kauft Grundstücke, um sie später der Allgemeinheit als Park zur Verfügung zu stellen, hilft Inselbewohnern in Not und lässt mit Millionenaufwand eine kühne, wunderschöne Serpentinenstraße bauen, die nur dem einen Zweck dient, einen besonders malerischen Abschnitt der Steilküste zugänglich zu machen - eine Straße als Kunstwerk. Noch heute ist Krupps Großzügigkeit auf Capri an vielen Stellen zu besichtigen. In seiner berückenden Schönheit ist die Insel im wahrsten Sinne eine Gegenwelt zur Stahlindustrie und zum staubigen Essen. Hier - und wohl nur hier - darf man sich Krupp als glücklichen Menschen vorstellen.
Ursächlich für dieses Glück sollen gerüchteweise allerdings auch Leidenschaften sein, die nach den damaligen Moralvorstellungen problematisch wären. Unter Krupps Regie, so weiß der Insel-Klatsch, sollen sich auf Capri wahre Orgien abspielen, von bezahlten sexuellen Kontakten des Industriellen mit sehr jungen Männern ist die Rede. Zum Capri-Klischee passt es. Denn tatsächlich ist die Insel zu jener Zeit auch Fluchtpunkt Homosexueller, die in Italien das Strafgesetz nicht zu befürchten haben.
Eine kleine Zeitung in Neapel bringt im Oktober 1902 den Stein ins Rollen, berichtet über einen „reichen, degenerierten Ausländer“, der auf Capri dem Laster fröne. Jedem halbwegs Kundigen ist klar, wer gemeint ist. Noch ist es nicht soweit, dass sich auch an entlegenen Stellen Publiziertes in Sekundenschnelle um den Erdball verbreitet. Wäre Krupp nicht der berühmte verhasste „Kanonenkönig“, wäre wohl nicht viel passiert.
So aber wird das Tabu Stück für Stück aufgebrochen. Über die Boulevardpresse in Rom gelangt die Story nach Deutschland, wird dort noch ohne Namensnennung veröffentlicht, bevor das SPD-Parteiorgan „Vorwärts“ am 15. November 1902 die Nation unter der Überschrift „Krupp auf Capri“ ins Bild setzt.
Das Hervorzerren intimer Details, das heute als hinzunehmende Schattenseite der Prominenz gilt, ist damals neu, sensationell und in diesem Fall auch rufmörderisch. Der Vorwurf der Homosexualität wiegt schwer, er vernichtete. Wohl zum ersten Mal wird ein Mensch auf Grund sehr privater Neigungen Opfer einer neuen Macht - der Massenpresse -, die auf ihre Art ein neues, „modernes“ Jahrhundert einläutet und Privates für den politischen Kampf instrumentalisiert.
„Die Attacke des Vorwärts passte nur zu gut in die widersprüchliche Haltung der Sozialdemokratie zur Homosexualität“, resümierte der Kulturhistoriker Dieter Richter 2002 anlässlich der hundertsten Wiederkehr der Ereignisse Im Parlament gab sich die SPD progressiv und kämpfte für die Abschaffung des Paragrafen 175, der Homoerotik unter Strafe stellte. Andererseits aber betrachteten nicht wenige Linke damals die gleichgeschlechtliche Liebe als widernatürliches Laster der „verfeinerten, höheren Klassen“ (Richter). Capri war so gesehen einfach eine günstige Gelegenheit, einen verhassten Kapitalisten fertigzumachen, indem man die fragwürdigen moralischen Waffen seiner eigenen Gesellschaftsschicht gegen ihn richtete.
Was aber stimmte nun von all den Gerüchten, die auf Capri umherschwirrten? Dieter Richter beschreibt, dass Krupp in einer romantischen Grotte an der „Via Krupp“ Feste für seine Freunde gab. Dort entledigte man sich der Alltagskleidung, schlüpfte in wallende Mönchsgewänder und gab sich, so Richter, „kindlichen Traumwelten des Spiels“ hin. Die ihm wohl gesonnen sind, sagen, er sei das unglückliche Opfer einer lokalen Intrige geworden, eines Erpressungsversuchs durch jene, die sich zu kurz gekommen wähnten beim Krupp’schen Geldsegen. Dass Krupp Homosexualität praktizierte, ist nicht mehr nachzuweisen, Historikern gilt es aber inzwischen als durchaus wahrscheinlich.
Tatsache bleibt: Der Skandal ist riesig, und Friedrich Alfred Krupp ein gebrochener Mann. Eine Woche nach der Veröffentlichung des „Vorwärts“ stirbt er im Alter von nur 48 Jahren. Vier Ärzte attestieren als Todesursache Gehirnschlag, doch wollten Selbstmordgerüchte nie ganz verstummen. Außer Zweifel steht wohl, dass die öffentliche Anprangerung und der plötzliche Tod kaum zufällig so nah beieinander liegen – aus welchen Gründen auch immer.
Die Trauer ist groß und aufrichtig, und dies nicht nur in bürgerlichen Kreisen. Daran ändert auch nichts, dass Kaiser Wilhelm die unstrittig fragwürdige „Vorwärts“-Kampagne zu einer bösen Generalabrechnung mit der Sozialdemokratie nutzt. Selbst Kruppianer, die der Arbeiterbewegung nahestanden, wussten, was sie an Friedrich Alfred Krupp hatten.
Und die Stadt Essen auch. Mit den unter seiner Ägide entstanden Siedlungen Alfredshof, Friedrichshof und Altenhof brachte er eine neue, qualitätvolle Note in das bis dato eher reizlose Stadtbild. Der Gartenstadtgedanke, der später in der Margarethenhöhe seinen Höhepunkt fand, deutete sich hier bereits an.