Essen. .
Obwohl die Zahl der Abtreibungen stetig sinkt, haben die Essener Schwangerschaftsberatungsstellen unvermindert viel zu tun: 2350 Ratsuchende kamen allein in der ersten Jahreshälfte.
Hilfe suchen auch Frauen, die gewollt schwanger sind, aber nicht wissen, wie sie das Leben mit dem Kind finanzieren, den Partner überzeugen oder mit der Angst vor einer Behinderung umgehen sollen. „Bei uns tauchen alle gesellschaftlichen Problemlagen auf“, sagt die Psychologin Petra Söchting, die das Lore-Agnes-Haus der Awo leitet.
Söchting und die Kolleginnen der drei anderen Essener Schwangerschaftsberatungsstellen haben jüngst ein Faltblatt erstellt und in Frauenarztpraxen ausgelegt: In sieben Sprachen macht der Flyer auf ihre Arbeit aufmerksam. Denn einige Frauen glauben, zu einer Schwangerschaftsberatung gehe man nur, um sich die für eine straffreie Abtreibung vorgeschriebene Beratung bescheinigen zu lassen. Demnach müsste Esther Noll vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) arbeitslos sein: Schließlich dürfen katholische Stellen den Schein auf päpstliche Weisung seit einem Jahrzehnt nicht mehr ausstellen. Trotzdem kann Sozialpädagogin Noll über mangelnden Zuspruch nicht klagen.
Das Baby als Antwort auf eine perspektivlose Zukunft
„Unsere Klientel reicht von Studentinnen über Migrantinnen bis zu minderjährigen Schwangeren.“ Sie alle wollen das Kind, fragen sich aber, wie sie ihr Leben umgestalten, ihren Unterhalt bestreiten sollen. Oft müssen Noll und ihre Kolleginnen einen Weg durchs Dickicht gesetzlicher Regelungen weisen: „Erhalte ich im Studium Elterngeld? Kann ich weiter zur Schule gehen? Hab’ ich Anspruch auf Wohngeld oder auf eine Umschulung?“
Die Beantwortung solcher Fragen und die Hilfe beim Ausfüllen von Formularen gehört zu Nolls Job genauso wie die Motivation junger Frauen: „Die haben oft weder Schulabschluss noch Ausbildung, aber eine Sehnsucht nach einer eigenen Rolle . . .“ „. . . und manchen erscheint eine Schwangerschaft als Perspektive in einer perspektivlosen Lage“, ergänzt Awo-Kollegin Söchting. Sie trotz Baby zum Schulbesuch zu ermuntern, sei oft schwer. „Die emotionale Hürde ist hoch, wenn man bisher eher unerfreuliche Erfahrungen mit der Schule gemacht hat“, weiß Noll.
Für eine junge Migrantin kann eine Schwangerschaft eine Katastrophe sein
Ihr Kind zur Adoption freizugeben, komme übrigens nur für eine verschwindend geringe Anzahl von Frauen infrage. „Auch junge Mädchen versuchen erstmal, die Situation alleine zu bewältigen“, sagt Noll. Mädchen, die völlig ohne Hilfe von Partner und Familie dastehen, könne man an eine Mutter-und-Kind-Einrichtung vermitteln. Psychologin Gabriele Hess von der Beratungsstelle der evangelischen Frauenhilfe hat aber den Eindruck, dass die meisten Familien die jungen Mütter heute besser unterstützen, ihr Ja zum Kind akzeptieren. „Ich mache diese Arbeit seit 24 Jahren, und früher kamen viel mehr Frauen wegen einer Abtreibung. Heute wird zum einen besser verhütet. Zum anderen müssen Frauen, die ihr Kind allein erziehen, nicht mehr fürchten, schief angesehen zu werden.“
Schwangere Teenager seien dabei freilich die ganz rare Ausnahme, betont Söchting: „Die Zahlen sind niedrig, bloß ist jeder Fall für das betroffene Mädchen ein Riesenproblem - für ein Mädchen mit Migrationshintergrund kann es eine Katastrophe sein.“ Aber auch im fortgeschrittenen Alter sei es nicht unbedingt einfach, mit einer Schwangerschaft umzugehen: „Das stellt vor allem Frauen, die schon Kinder großgezogen und sich gerade beruflich neu orientiert haben, vor heikle Entscheidungen.“
Der medizinische Fortschritt wirft neue ethische Fragen auf
Ältere Frauen erlebten zudem oft, dass ihre Schwangerschaft nur als Risiko behandelt werde, erzählt Christiane Gründel von Donum vitae. „Die Pränataldiagnostik wird ein immer größeres Thema, das viele neue ethische Fragen aufwirft.“ Fragen, denen sich die werdenden Eltern meist unvermittelt gegenübersehen, sagt Söchting. „Die Frauen machen eine Fruchtwasseruntersuchung, um zu hören, dass alles in Ordnung ist. . . und plötzlich ist nichts mehr in Ordnung!“ Da weiche die Freude auf das Wunschkind der Frage, ob man es - womöglich in einer bereits fortgeschrittenen Schwangerschaft - noch abtreibe. Dann höre man Sätze wie: „Das kannst Du nicht tun.“ Oder: „Ein behindertes Kind - das muss heute nicht mehr sein.“
Esther Noll begegnet meist mit Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch ablehnen und sagen: „Ich nehme jedes Kind.“ Ihre Kolleginnen erleben zerrissene Frauen in schwer erträglichen Konflikten. „Wenn die ganze Familie mitdiskutiert, ist es manchmal schon hilfreich, dass wir nichts bewerten, sondern nur zuhören“, sagt Gabriele Hess. „Wenn sie ihren Konflikt in Ruhe darstellen können, kristallisiert sich oft schon heraus, wie sie entscheiden möchten.“
Und das eint über alle ideologischen Grenzen hinweg die Kolleginnen aller vier Beratungsstellen: Dass sie die Frauen nicht belehren, sondern begleiten wollen. Dabei hilft mancher Frau ein einziges Gespräch, andere kommen immer wieder, suchen auch Rat zu allgemeinen Fragen rund um die Themen Sexualität und Familie. Manchmal kommt eine Ratsuchende gar nach vielen Jahren wieder: mit der schwangeren Tochter.