Essen. In Text- und Sprachnachrichten hat ein Schüler eine 16-Jährige bedroht. Ihre Eltern hofften auf einen Schulverweis für den Jungen. Es kam anders.
Die Mädchen und Jungen in Essen genießen jetzt die Weihnachtsferien und kehren im neuen Jahr in ihre Schulen zurück. Für die 16-jährige Felicitas (Name geändert) ist ungewiss, wie sie ihre Schullaufbahn dann fortsetzen soll. Zur Freien Waldorfschule im Stadtwald, die sie bisher besucht hat, wird sie nicht mehr gehen. „Ich habe nicht das Gefühl, dass sie dort gut aufgehoben und sicher ist“, sagt ihre Pflegemutter Caroline Schnitzler (Name geändert). Felicitas sei von einem Mitschüler massiv bedroht worden.
Schüler drohte Prügel und Platzwunden an
Ihre Tochter habe zum Beispiel eine Textnachricht erhalten, in der der etwa Gleichaltrige sie zum Oralverkehr auffordere und auf ihr Nein schreibe: „Wenn ich dich sehe, schiebe ich ihn dir einfach in den Rachen.“
Auch habe er Felicitas überreden wollen, mit Drogen zu handeln und auf ihre Ablehnung mit Drohungen gegen sie und ihren kleinen Bruder reagiert. Er werde „den Jungs“ Bescheid geben, heißt es in einer Sprachnachricht, die die Pflegemutter gesichert hat. Und weiter: „Wenn die ihn dann verprügeln, weiß er wenigstens, was für eine dumme Schwester er hat.“ Sie wolle den Bruder wohl „mit Platzwunden auf dem Boden liegen sehen“.
Eltern hatten auf behütetes Umfeld gehofft
Gewiss finde sich in Nachrichten von Teenagern auch manche „pubertäre Phantasie“, sagt Caroline Schnitzler. Bloß sei der Jugendliche kein unbeschriebenes Blatt, sondern schon wegen körperlichen Attacken, Drogenkonsums und -handels aufgefallen. Mehrfach habe er ein Messer mit in die Schule genommen. Felicitas sei durch seine Nachrichten verängstigt und traue sich nicht mehr in die Schule.
Dabei hatten die Pflegeeltern das Mädchen aus Sorge vor einem möglicherweise schwierigen Umfeld bewusst nicht an einer Förderschule angemeldet: Felicitas besucht seit der zweiten Klasse die Waldorfschule. Sie ist im Parzival-Zweig für Kinder mit „Entwicklungsstörungen im physischen, seelischen und geistigen Bereich“. In der Hoffnung, dass das Mädchen hier besonders behütet ist, nahm die Familie in Kauf, monatlich Schulgeld zu zahlen.
Aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes geben weder die Schule noch das Jugendamt detailliert Auskunft zu dem Fall. Auch nicht zu dem Jungen. Darum lässt sich nicht sagen, inwieweit die Vorwürfe zu Körperverletzung, Messertragen und Drogenbesitz zutreffen. Das Jugendamt betont: „Generell sind Bedrohungen an Schulen keine Kavaliersdelikte und werden von allen Beteiligten sehr ernst genommen.“ Im konkreten Fall stehe man mit allen Seiten im Austausch und habe „weitere Maßnahmen“ eingeleitet.
Jugendlicher wurde für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen
Auch die Schule sah offenbar Handlungsbedarf, als sie über die – dokumentierten – Drohungen informiert wurde: Am 30. November habe es ein Gespräch gegeben, an dem die Pflegeeltern, der Vormund, die Stufenleiterin sowie Geschäftsführer Daniel Horstkotte teilnahmen, der die Waldorfschule leitet. Bloß hätten die Vertreter der Schule die Sprachnachrichten gar nicht anhören wollen, sagt die Pflegefamilie.
Pflegeeltern hätten sich härtere Sanktion gewünscht
Sie hatte gehofft, dass der Junge der Schule verwiesen würde. Tatsächlich wurde er lediglich für zwei Wochen vom Unterricht suspendiert. Anschließend habe er einen „Vertrag“ mit der Schule unterzeichnen müssen, sagt Caroline Schnitzler. Darin sichere er zu, Felicitas in Ruhe zu lassen, und ohne Drogen und Messer zur Schule zu kommen. Für eine ausreichende Sanktion hält die Mutter das nicht: In einem ähnlichen Fall habe er schon einmal einen solchen Vertrag unterzeichnet – und sich nicht daran gehalten.
Überprüfen können wir auch diesen Sachverhalt nicht. Die Familie zog jedenfalls die Konsequenz, dass Felicitas nach der Rückkehr des Schülers zu Hause blieb, wo sie den Stoff nun anhand von Lernmaterial bearbeitet. Schließlich kämpfe sie hart für den Hauptschulabschluss.
„Den pädagogischen Ansatz, Schülern auch in schweren Zeiten beizustehen und nicht durch überhartes Vorgehen einen Lebensweg zu erschweren“, könnten sie nachvollziehen, sagen Felicitas’ Pflegeeltern. Doch es gebe Grenzen, wenn ein Jugendlicher seine Chancen nicht wahrnehme. In diesem Fall sei der Schüler wohl „an einer anderen pädagogischen Einrichtung“ besser aufgehoben. Auch müsse die Schule Drogenkonsum und -handel einen Riegel vorschieben.
Waldorfschule widerspricht der Darstellung der Eltern
Der Geschäftsführer der Waldorfschule verwahrt sich entschieden gegen die Darstellung der Familie, „die Schule habe keine ausreichenden Maßnahmen getroffen“. Selbstverständlich habe man während der zweiwöchigen Suspendierung „alle Beteiligten angehört und die Vorfälle bestmöglich aufgeklärt“, schreibt Daniel Horstkotte auf Anfrage.
Auch die den Fall betreffenden Sprachnachrichten habe man angehört, dazu weitere Informationen gesammelt. Daraus ergebe sich ein von den Informationen der Pflegemutter „abweichendes Bild“.
Einen weiteren Termin mit allen Beteiligten habe die Mutter abgelehnt und stattdessen Anzeige erstattet, „sodass die weitere Aufklärung in der Hand der Ermittlungsbehörden liegt, die wir selbstverständlich in jeder Hinsicht unterstützen“. Im Übrigen habe die Schule „alles in unserer Macht Stehende getan, um alle Schutzbefohlene zu schützen und eine Rückkehr in den Schulalltag zu ermöglichen“.
Mädchen muss sich nun eine neue Schule suchen
Das sieht die Pflegefamilie anders: Das Opfer bekomme keinen Schutz und müsse daher die Schule verlassen – in der zehnten Klasse. Dabei sind laut Jugendamt „Schulformwechsel nur bis zum Ende der Klasse 8 vorgesehen“. Ein späterer Wechsel sei wegen des unterschiedlichen Aufbaus der Schulformen schwierig. Die Lehrpläne der Waldorfschule wichen „erheblich von den staatlichen Curricula ab“.
Da Felicitas 16 ist, unterliegt sie der bis zur Volljährigkeit geltenden Schulpflicht. Die könnte sie auch erfüllen, wenn sie eine Ausbildung macht und zur Berufsschule geht. Das Jugendamt habe ihr einen Platz an einer Förderschule angeboten, doch das halte sie weiter für keine gute Lösung, sagt Caroline Schnitzler. Vermutlich werde Felicitas an ein Berufskolleg wechseln. Nur zur Waldorfschule kehre sie nach den Bedrohungen und dem Umgang damit nicht zurück. Für Felicitas sei klar: „Ich gehe da nicht mehr hin.“
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