Essen. Mal ist die Familie überfordert, mal verreist – oder es gibt keine: So landen viele Senioren Weihnachten im Krankenhaus, sagt ein Essener Arzt.
Weihnachten im Krankenhaus? Das ist für die meisten Menschen eine Horrorvorstellung. Wenn es irgend geht, holen sie den Großvater oder die betagte Mutter an den Feiertagen nach Hause. Dennoch liegen zu Heiligabend nicht nur Schwerstkranke in Klinikbetten, sondern auch viele Menschen, die niemanden haben, der sich kümmern kann oder möchte. „Einsamkeit wird ein Mega-Thema der Medizin“, sagt Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Leiter der Klinik für Neurologie an der Uniklinik Essen.
Essener Arzt begegnet vielen einsamen Patienten
Einsamen Patienten begegnet der Mediziner ganzjährig, und die wenigsten sprächen das Thema selbst an. „Viele schämen sich, aber wenn es auffällt, bricht es aus manchen heraus.“ Die harmlose Frage, wer ihnen ein paar Wechselsachen in die Klinik bringen könnte, bringt sie aus der Fassung: Sie leben allein, niemand hat einen Schlüssel zur Wohnung oder könnte angerufen werden. „Wir reden hier nicht über Obdachlose, sondern über Menschen, die eine Wohnung, zum Teil auch einen Job haben – aber keinen Vertrauten, keinen Angehörigen. Das zu sehen, ist hart.“
Bewegend ist das gerade für Kleinschnitz, der aus dem Süden der Republik stammt und den Eindruck hat, dass es im Ruhrgebiet mehr Einsamkeit gebe als etwa „in einer ländlichen Gegend in Franken“, wo noch alle Generationen an einem Ort wohnten. Dörfliche Strukturen erzeugten auch „Konformitätsdruck“, also den Zwang, sich anzupassen. Doch wo solche alten Verbünde – das kann auch die Zechensiedlung sein – aufbrächen, wo ein tradierter „christlich-sozialer Touch“ verloren gehe, falle der Einzelne stärker auf sich zurück. In der dunklen Jahreszeit verschärfe sich der Leidensdruck der Betroffenen: Einen Klinikaufenthalt erlebten sie mitunter sogar als wohltuend.
Manche wollen lieber im Krankenhaus bleiben als nach Hause
„Die meisten Patienten fragen bei der ersten Visite: ,Wann komme ich wieder heim?’ Doch manchen tut es gut, dass sie rundum versorgt werden, Essen und Ansprache bekommen.“ Wenn er ihnen sage, dass es für einen Klinikaufenthalt keine medizinischen Gründe mehr gebe, höre er schon mal: „Aber es ist so schön hier, die Schwestern sind so nett.“ Jede Woche habe er mindestens einen, der lieber bleiben wolle.
In anderen Fällen verzögere sich eine Entlassung, weil betagte Patienten zwar geheilt sind, ihren Alltag zu Hause jedoch nicht allein bewältigen könnten. Für einige finde sich eine Reha, die sie wieder mobilisieren solle. Andere werden in die sogenannte Kurzzeitpflege in einem Seniorenheim verlegt, um später heimzukehren. Eine Hoffnung, die sich oft nicht erfüllt. Viele alte Menschen bleiben dauerhaft im Pflegeheim.
Allerdings sei das Betreuungssystem bekanntlich überlastet, es mangele an Reha- und Heimplätzen, an Pflegepersonal und ambulanter Betreuung. Auch pflegende Angehörige gerieten an ihre Grenzen. Rund um Weihnachten, wenn vielerorts mit Minimalbesetzung gearbeitet wird, macht sich das im Klinikalltag bemerkbar: „Die Feiertage produzieren wahnsinnig viele Aufnahmen bei uns“, sagt Kleinschnitz.
Angehörige wollen Heiligabend nicht Windeln wechseln
Neben jenen Patienten, die unbedingt bis Heiligabend entlassen werden möchten, gebe es auch den gegenteiligen Effekt: „Ich habe das Gefühl, dass einige Pflegeheime und auch Familien pflegebedürftige alte Menschen dann sogar eher ins Krankenhaus bringen. Es ist tragisch!“
Dabei hat der Mediziner Verständnis für Angehörige, die sich ohne Pause um ältere Angehörige kümmern. „Weihnachten ist das Familienfest, kann in so einer Situation aber auch sehr belastend sein.“ Es sei menschlich, wenn jemand denke: „Ich möchte Weihnachten nicht um fünf Uhr morgens Windeln wechseln.“ So lande wohl mancher medizinische Grenzfall im Klinikbett.
Zwischen den Jahren passiere es auch, dass alte Menschen nicht entlassen werden können, weil niemand sie abholt. „Manche Familien wollen nicht, andere bitten um Zeit, bis in zwei Wochen der Kurzzeitpflegeplatz frei ist.“ Doch ein Krankenhaus könne den Mangel im Betreuungssystem nicht abfedern: „Wir sind ja kein Altenheim.“
Die Oma liegt Weihnachten auf Station 1 - die Familie ist verreist
Es sei im Klinikalltag auch nicht möglich, auf jede Familiensituation Rücksicht zu nehmen. Und nicht immer habe man es mit überlasteten Angehörigen zu tun. Mitunter sind die Familien schlicht verreist, während die Oma auf Station 1 liegt. „Da reden wir schon mal Tacheles und sagen Angehörigen: ,Sie müssen Ihre Mutter jetzt abholen, sich kümmern.’“ Fällt der Widerstand zäh aus, müsse kein alter Patient bangen, verspricht Kleinschnitz: „Ein 80-Jähriger mit einem leichten Schlaganfall, muss nicht zehn Tage im Krankenhaus bleiben, aber wir setzen ihn natürlich nicht auf die Straße.“
[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Folgen Sie uns auch auf Facebook, Instagram & WhatsApp | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig und Werden + Borbeck und West | Alle Artikel aus Essen]