Essen. Viele ukrainische Kinder sind traumatisiert: Sie trauen sich nicht auf die Straße, haben Angst vor jeder Sirene. Ein Essener Verein hilft ihnen.

Sie zucken zusammen, wenn sie einen Hubschrauber hören, Feuerwerk macht ihnen Angst und manche möchten gar nicht vor die Tür gehen: Viele Kinder aus der Ukraine wissen, dass sie in Essen außer Gefahr sind, doch der Alltag im fremden Land verstört sie. „Sie müssen erst lernen, dass sie hier wirklich sicher sind“, sagt die ukrainische Psychologin Valeriia Serheieva (46). „Erst dann können sie die Sprache lernen, sich auf ein neues Leben einlassen.“

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Gemeinsam mit ihrer Kollegin Yuliia Diakunenko (39) kümmert sie sich um die Kinder und Jugendlichen, die im ehemaligen Marienhospital in Altenessen und im früheren Kloster Schuir untergebracht sind. Die Jungen und Mädchen kommen oft schwer traumatisiert in Deutschland an: Sie haben Beschuss und Bombenangriffe erlebt, sterbende Menschen gesehen, Verwandte verloren. Ja, sie brauchten Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf, aber genauso wichtig sei, dass man sich um ihre seelischen Nöte kümmere, sagen die beiden Frauen: „Sie brauchen Hilfe – sofort.“

„Als wir im Vereinsvorstand hörten, dass 70 Prozent der ukrainischen Kinder traumatische Erfahrungen gemacht haben und weiter machen, weil ihre Väter im Kriegsdienst sind, war uns klar, dass wir handeln müssen“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Essener Vereins Menschenmögliches, Tim Geldmacher.
„Als wir im Vereinsvorstand hörten, dass 70 Prozent der ukrainischen Kinder traumatische Erfahrungen gemacht haben und weiter machen, weil ihre Väter im Kriegsdienst sind, war uns klar, dass wir handeln müssen“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Essener Vereins Menschenmögliches, Tim Geldmacher. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Dass sie diese Hilfe bekommen, ist dem Verein „Menschenmögliches“ (MM) zu verdanken, der sich sonst um Krebspatienten und ihre Familien kümmert. „Schwere Last von kleinen Schultern nehmen“, heißt eins der Vereinsprojekte, das Kinder schwerkranker Eltern begleitet. „Als wir im Vereinsvorstand hörten, dass 70 Prozent der ukrainischen Kinder traumatische Erfahrungen gemacht haben und weiter machen, weil ihre Väter im Kriegsdienst sind, war uns klar, dass wir handeln müssen“, sagt der MM-Vorstandsvorsitzende Tim Geldmacher. Auch hier laste auf kleinen Schultern eine zu große Bürde.

Die Kinder kommen in Essen erst langsam zur Ruhe

Als Glücksfall erwies sich der Kontakt zu Yuliia Diakunenko, die aus Saporischschja stammt und die Ukraine bald nach Kriegsbeginn mit ihrer heute 14-Jährigen Tochter verlassen hatte. Sie ist Psychologin, auch wenn sie die Berufsbezeichnung hier nicht verwenden darf, weil sich die Ausbildung in beiden Ländern unterscheidet. In ihrer Heimat hat sie viele Fortbildungen gemacht, etwa in Trauma-Pädagogik und Kunsttherapie; spezialisiert ist sie auf Kinder- und Jugendpsychiatrie. Menschenmögliches hat sie auf 30-Stunden-Basis eingestellt und organisiert gemeinsam mit der Caritas ihren Einsatz im Marienhospital, der im April 2022 begann.

Im früheren Marienhospital in Altenessen sind im Moment Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht.
Im früheren Marienhospital in Altenessen sind im Moment Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

„Yuliia hat sofort gemerkt, wie groß der Hilfsbedarf ist – und dass neben den Kindern auch viele Mütter betroffen sind“, erzählt Geldmacher. Deren Krankheiten, Depressionen, Alkoholprobleme können sie nicht ignorieren: „Wir müssen die Eltern stabilisieren, damit die Kinder zur Ruhe kommen können“, sagt Valeriia Serheieva, die aus Kiew stammt, mit ihren beiden Söhnen (14, 17) hergekommen ist, einen ähnlichen beruflichen Background hat und ebenfalls für 30 Stunden bei MM angestellt ist. Sie arbeitet meist im Kloster Schuir.

Viele zucken bei jedem Flugzeug zusammen

Die Frauen, die sich schon von Lehrgängen aus der Ukraine kennen, teilen sich dazu von MM angemietete Praxisräume in der Innenstadt. Dorthin zu kommen, ist für manche Klienten diskreter, als sie in der Unterkunft aufzusuchen. Und: Es zwingt die Menschen, nach draußen zu gehen. „Sie müssen sich auf die Straße wagen, einen Bus nehmen“, sagt Yuliia Diakunenko.

Golf-Turnier spielte 100.000 Euro für die gute Sache ein

Der Essener Verein „Menschenmögliches e.V.“ (MM )wurde im Jahr 2011 von engagierten Bürgern gegründet, um Menschen zur Seite zu stehen, die schwer erkrankt sind oder die keine Hoffnung auf Heilung haben.

Die beiden ukrainischen Familientherapeutinnen hat Menschenmögliches im Jahr 2022 spontan eingestellt, um traumatisierten Kindern aus dem Land zu helfen. Finanziert wurden sie durch ein Golf-Turnier im vergangenen Jahr sowie durch die Unterstützung der Susanne-Henle-Stiftung. Inzwischen hat Menschenmögliches auch zwei Therapeutinnen für Mülheim eingestellt. Bei einem Golf-Turnier aller Essener und Mülheimer Rotary-Clubs im Mai 2023 berührten die Berichte der Psychologinnen die Teilnehmer sehr: Sie spendeten insgesamt 100.000 Euro, damit die Arbeit fortgesetzt werden kann.

MM-Vorstand Tim Geldmacher hofft, dass die Finanzierung künftig nicht allein über Spenden gesichert werden muss. Man sei mit der Stadt Essen in Gesprächen, um eine nachhaltige Finanzierung zu sichern.

Kontakt unter: 0201-85 89 25 30 oder per Mail an: Infos auf: https://menschenmoegliches.de/

Viele, die in der Ukraine lange in Kellern und Schutzräumen um ihr Leben bangten, können ihre Überlebensstrategien hier nicht einfach aufgeben. Auch ihr Vater, der später als sie nach Deutschland gekommen ist, bangte um die Tochter, wenn sie um 18 Uhr noch nicht zu Hause war: „Er rief besorgt an, fragte, wo ich denn nur bin.“ Jedes Flugzeug lasse ihn zusammenzucken.

Manche Kinder reagieren schon auf einen russischen Gruß verängstigt

So gehe es auch vielen der Kinder: Selbst die Sirenen der Rettungswagen lösen Ängste aus und manchmal reicht es, dass jemand ganz freundlich auf Russisch „Guten Morgen“ sagt. Manche haben diesen Gruß zuletzt von Soldaten gehört, die anschließend Häuser zerstörten, die Nachbarn töteten.

Russisch, das in der Ukraine allgegenwärtig war, ist ihnen nun verhasst. Und Hass, Wut, Aggression gehören zu den Kriegsfolgen, die die Psychologinnen behandeln, genauso wie Angst und Trauer. Andere junge Menschen quälen Schuldgefühle, weil sie in Sicherheit sind und ihre Väter in Gefahr. „Fast jede ukrainische Familie hat jemanden verloren“, sagt Valeriia Serheieva. Auch ihr Bruder ist tot. Als Teil einer erfolgreichen Militäroperation gilt er als Held. Ein Held, der eine Frau und zwei Kinder hinterlässt.

Im früheren Kloster Schuir in Essen leben heute Flüchtlinge. Traumatisierte Kinder aus der Ukraine werden von einer ukrainischen Familientherapeutin betreut.
Im früheren Kloster Schuir in Essen leben heute Flüchtlinge. Traumatisierte Kinder aus der Ukraine werden von einer ukrainischen Familientherapeutin betreut. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Man müsse aufpassen, dass man die beiden engagierten Frauen nicht verbrenne, sagt Tim Geldmacher. Denn die Geschichte ihrer Klienten ist auch ihre Geschichte: Yuliia Diakunenko ist mit 39 Jahren Witwe, ihre Tochter vaterlos. Doch sie sei dankbar für ihre Aufgabe, dankbar, dass sie anderen helfen könne: Jugendlichen von 17, 18 Jahren, die ganz allein hier ankommen, Kindern, die verstummt sind. „Wenn wir Gruppen anbieten und sie hören, wie ein anderes Kind erzählt, öffnen sie sich und beginnen zu sprechen.“

Die Begegnung mit dem Tod ist immer präsent

Sie und ihre Eltern müssten lernen, ohne festen Plan zu leben. Viele träumten von der Rückkehr in die Ukraine. Andere freunden sich mit einer Zukunft in Deutschland an, „leben in zwei Realitäten“, wie Valeriia Serheieva formuliert. Nicht jede Ehe halte das aus, auch in Zeiten des Krieges gebe es Scheidungen

Für die, die warten, kann jede Nachricht aus der Heimat eine Todesnachricht sein. „Die Begegnung mit dem Tod ist für uns immer präsent“, sagt die Kiewerin. Gleichzeitig spüre sie jeden Moment, dass sie großes Glück gehabt hat. Angefangen mit der netten Familie, die sie hier aufgenommen habe: „Die Leute sind jetzt noch wie Großeltern für meine Kinder.“ Sie habe in Deutschland viel Herzlichkeit und Hilfe erlebt. Sie könne ihren Klienten nicht versprechen, wie die Zukunft aussehen werde: „Wir arbeiten mit den Familien, für das Heute das Beste zu tun.“