Essen. Beim Angriff auf Kramatorsk verliert Anastasiia (19) ein Bein und fast das Leben – in Essen wird sie gerettet. Wie man sie unterstützen kann.
Anastasiia Shestopal ist 19 Jahre alt, so lange sie denken kann, hat sie getanzt. Am 8. April 2022 wartet sie am Bahnhof der ukrainischen Stadt Kramatorsk auf eine Mitfahrgelegenheit in einen anderen – sichereren – Landesteil. Als sie die russischen Raketen hört, will sie noch weglaufen, stürzt. Die Explosion zerreißt ihr linkes Bein, raubt ihr fast das Leben, aber nicht den Mut. „Ich will meine Geschichte erzählen“, sagt Anastasiia, die heute in Essen lebt und behandelt wird.
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Es ist die Geschichte eines Mädchens, das immer in Bewegung war, das Abitur mit Silber-Medaille abschloss, träumte, Schauspielerin zu werden und an der Schauspielschule bald merkt: „Das war vielleicht nur eine Illusion.“ Lieber studiert sie Sozialarbeit in Kiew. Vor einem Jahr kehrt sie coronabedingt ins heimische Druzhkovka in der Donezk-Region zurück, ist da mit den alten Freunden unterwegs, studiert über Videoportale. „Sie ist so begeisterungsfähig, hat so viele Hobbys, hat Kinder betreut im Sommercamp. Zu Hause war sie fast nie“, erzählt ihre Mutter Viktoriia Shestopal.
Tausende warteten am Bahnhof Kramatorsk auf die Evakuierung
Zu Kriegsbeginn fühlte sie sich noch sicher. „Dann hörten wir die Schüsse, sahen zerstörte Häuser, verließen immer mehr Freunde den Ort“, erinnert sich Anastasiia. Ihre Eltern und die ältere Schwester mit ihrer Familie wollten bleiben, Anastasiia hat Angst, will zu Freunden nach Dnepropetrowsk (Dnipro) fahren, ihre Eltern stimmen zu.
Als Treffpunkt für ihre Mitfahrgelegenheit vereinbarte sie den Bahnhofsplatz in Kramatorsk. „Der ist hübsch bepflanzt, es gibt Sitzgelegenheiten, eine Atmosphäre, die nicht ziviler sein kann“, sagt Viktoria Shestopal. Als fasse sie noch nicht, dass dies der Schauplatz für ein Inferno werden sollten mit 57 Toten und mehr als 100 Verletzten.
Am 8. April warten just hier mehrere Tausend Menschen auf die Evakuierung, meist Frauen und Kinder. Anastasiia zückt ihr Handy, dreht einen Videoclip für ihre Freunde: „Hier bin ich, da sind meine Koffer, ich muss noch warten.“ Es hätte ihre letzte Botschaft sein können. Sie hat gerade begonnen, ein Buch zu lesen, als sie die Rakete hört. Sie will fliehen, fällt, liegt in Schmerz und Panik auf dem Boden, hört die zweite Rakete und denkt: „Wenn mich die erwischt, bin ich tot.“
Die Eltern klappern die Kliniken ab, suchen die Tochter
Sie will schreien, doch das kostet zu viel Kraft. Irgendwann kommen Sanitäter, legen sie auf eine Trage: „In ihren Gesichtern sah ich, was mit mir los ist.“ Sie sieht auch das Blut an ihrem Körper, die Toten auf dem Platz, sie hört ihr Handy und kann sich nicht rühren. Die Nachricht der Katastrophe ist da schon in der Welt, tausend Familien bangen um ihre Lieben am Bahnhof Kramatorsk, wohl tausend Handys klingeln. „Ich bin am Leben, bin im Krankenhaus“, sagt Anastaiia, als sie endlich die Mutter erreicht.
Die Eltern fahren los, suchen ihre Tochter in drei Krankenhäusern, kehren schließlich ins erste zurück, wo Anastasiia längst im OP liegt „Wird sie wieder laufen?“, fragt die Mutter. „Beten Sie, dass sie überlebt“, antwortet der Arzt.
Nach Mitternacht fährt eine Kolonne von 25 Krankenwagen Richtung Dnipro: „In jedem Wagen vier, fünf Schwerverletzte“, sagt Anastasiia. Als sie in der Großstadt-Klinik eintrifft, hat sich ihr zertrümmertes Bein infiziert, vergeblich fleht sie: „Rettet es.“ Als sie aus der Narkose erwacht, ist ihr Bein fort. „Meine Mutter tröstete mich am Telefon: ,Du bekommst eine Prothese, es geht weiter für Dich.’ Als sie zu mir kam, ging es mir schon besser.“
Sie liegt einen Monat lang im Krankenhaus in Dnipro, während Freunde und Familie einen Hilferuf in die Welt senden: Anastasiia brauche die beste Behandlung, um nicht noch an den Folgen der Amputation zu sterben, um ihre Beweglichkeit zurückzugewinnen. Über ihren Ex-Freund gelangt der Hilferuf nach Essen: Seine Tante, die in Stadtwald lebt, verbreitet per WhatsApp, wie es um Anastasiia steht. Mira Dohin, die in der selben Siedlung lebt, liest das und denkt: „Die muss da raus!“
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Mira Dohin hat bis dahin keine besondere Verbindung zur Ukraine, aber sie hat augenscheinlich ein großes Herz. Sie setzt in diesen April-Tagen hundert Hebel und Menschen in Bewegung, um Anastasiia nach Essen zu holen (Text unten). Ihr ist es zu verdanken, dass die 19-Jährige und ihre Mutter Anfang Mai in einem Evakuierungszug von Dnipro zunächst nach Lwiw (Lemberg) reisen. Ausgerechnet im Zug.
Ihre Follower geben ihr Kraft
Den Rest der mehr als 2000 Kilometer langen Strecke legen sie im Krankenwagen zurück, werden in Essen erwartet: Anastasiia wird sofort in die Uniklinik gebracht. Ihre Mutter kommt in eine Gastfamilie.
Der Leidensweg von Anastasiia ist da noch nicht zu Ende. In der Uniklinik wird sie zum siebten und letzten Mal operiert, holt sich einen Infekt, erleidet ein Nierenversagen. „So schlimm ging es mir nicht mal nach der Abnahme des Beins.“ Aber sie kämpft sich in den drei Wochen Klinikaufenthalt zurück, bekommt Krücken, trainiert mit der Physiotherapeutin, macht Fortschritte.
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Nach der Entlassung zieht sie mit der Mutter in eine kleine Wohnung in Kliniknähe. Sie wünscht sich Turnmatte und Hanteln, die ihr eine der ehrenamtlichen Helferinnen schenkt. Sie turnt einbeinig, funktioniert die Krücken zu Sportgeräten um. „Sie konnte nie still sitzen“, sagt Viktoriia Shestopal, die ihre Tochter ängstlich bittet: „Mach’ das, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich kann das nicht sehen.“ Doch Anastasiia will gesehen werden: Sie unterlegt ihre Work-outs mit Musik, filmt sich, postet die Clips bei Instagram und Tiktok, schreibt einen Blog. „Ich habe viele Follower – das gibt mir Kraft, motiviert mich.“
Mancher reagiere erst bestürzt – und sehe dann, „dass ich mein Leben mit einem Bein meistere wie mit zweien“. Sie habe den Verlust des Beines akzeptiert, doch es rufe sich mit bösen Phantomschmerzen in Erinnerung. Und sie plagen Zweifel, ob auch andere sie so akzeptieren. Digital arbeite sie mit einer Psychologin zusammen. „Erst seit kurzem schreckt sie nicht mehr zusammen, wenn sie ein Flugzeug hört“, erzählt ihre Mutter.
Eines Tages will Anastasiia wieder tanzen
Bald bekommt sie ihre erste Prothese, die sie ein halbes Jahr tragen muss, bevor die dauerhafte Prothese angepasst werden kann. Anastasiia und ihre Mutter lernen gerade Deutsch, „aber wenn die Behandlung abgeschlossen ist und der Krieg vorbei, wollen wir nach Hause“. Zum Vater, zur Schwester und ihrer Familie. Die sollen dann live sehen, was der Mann vom Sanitätshaus Anastasiia versprochen hat: „Dass ich wieder tanzen werde.“
Wer Anastasiia unterstützen möchte, kann für sie auf das Konto von Werden hilft e.V. spenden. IBAN: DE45360501050001611805, BIC: SPESDE3E, Spendenzweck: Für Geflüchtete mit Behinderungen und/oder Kriegsverletzungen. (< So kann das Konto später auch für andere Kriegsopfer genutzt werden.)