Bochum. „Es gibt eine große Not“, sagt die Kinder- und Jugendpsychologin Silvia Schneider. Mit speziellen Angeboten will sie jungen Menschen Mut machen.

Die Corona-Zahlen explodieren, an den Schulen herrscht Verunsicherung und Testchaos. Immer mehr Kinder erkranken oder werden durch eine Quarantäne aus dem Alltag gerissen. Wir gehen ins dritte Jahr der Pandemie - und die Lage scheint bedrohlicher als je zuvor. Warum Kinder und Jugendliche besonders unter den Bedingungen leiden, warum Verhaltensauffälligkeiten, Depressionen und sogar Suizidgedanken zunehmen und wie man die Jugendlichen unterstützen kann, darüber sprach Christopher Onkelbach mit der renommierten Kinder- und Jugendpsychologin Silvia Schneider, Professorin an der Ruhr-Uni Bochum.

Millionen Schülerinnen und Schüler leben seit zwei Jahren im Ausnahmezustand. Wie wirkt sich das aus?

Silvia Schneider: Zu Beginn der Pandemie wurde noch über mögliche psychischen Folgen der Pandemie spekuliert. Jetzt erkennen wir aber klar, dass ein erheblicher Teil der Schülerinnen und Schüler stark unter den veränderten Lebensumständen leidet.

Prof. Dr. Silvia Schneider, Kinder- und Jugendpsychologin an der Ruhr-Uni Bochum.
Prof. Dr. Silvia Schneider, Kinder- und Jugendpsychologin an der Ruhr-Uni Bochum. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Mit welchen Folgen?

Wir sehen einen Anstieg von Ängsten, Depressionen, Essstörungen, Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Niedergeschlagenheit oder Zwangsstörungen. Manche Kinder sind täglich stundenlang mit Händewaschen, Desinfizieren oder anderen Vorsichtsmaßnahmen beschäftigt. Andere ziehen sich zurück, grübeln, liegen im Bett, machen ihre Hausaufgaben nicht, spielen am Computer. Wir sehen ganz klar: Es gibt eine große Not - bis hin zu Suizidgedanken und Suizidversuchen.

Hat das zugenommen?

Leider ja. Die Daten zeigen eine deutliche Zunahme im Vergleich zur Vor-Pandemie-Zeit, vor allem unter jungen Mädchen. Die Zahl der Aufnahmen in pädiatrischen Intensivstationen ist nach oben geschnellt. Dies zeigte jüngst eine Studie des Uniklinikums Essen, die Daten von bundesweit 27 Kinderintensivstationen abfragte. Danach haben sich die Zahlen im Vergleich zum ersten Lockdown mehr als verdoppelt. Das ist alarmierend. Aber sicher nur die Spitze des Eisbergs.

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Wie erklären Sie sich die psychischen Reaktionen?

Je länger die Situation andauert, desto beeinträchtigender ist dies für Kinder und Jugendliche. Viele Dinge, die wichtig sind für die Entwicklung, sind derzeit kaum möglich. Sie haben weniger Auslauf, sitzen zu Hause, ihnen fehlen Sozialkontakte, Sport, Freunde, die Struktur des Alltags. Das alles sind Stressoren für Kinder und Familien. Und auch die Eltern sind sehr belastet. Wir alle sind ein Stück weit zermürbt und dürsten nach Normalität und Vorhersehbarkeit. Corona erzeugt ein Gefühl von Kontrollverlust.

Uns entgleitet die Kontrolle über das Leben?

Ein Stück weit – ja. Es ist in der Forschung gut belegt, dass ein lang andauerndes Gefühl von Kontrollverlust zu Depressionen führen kann. Das ist auch verständlich. Wenn man sich immer wieder bemüht und anstrengt, sich aber an der eigenen Situation nichts ändert, macht das hilflos. Deshalb müssen wir den Kindern und Jugendlichen immer wieder erklären, dass wir trotzdem etwas tun können und nicht machtlos sind. Wir haben sehr schnell einen Impfstoff entwickelt, wir tragen Masken, wir verändern unseren Lebensstil. So können wir Kontrolle zurückgewinnen.

Viele Jugendliche können sich in der aktuellen Zeit nicht altersgemäß verhalten – was macht das mit ihnen?

Wir sehen in unseren Ambulanzen sehr deutlich, dass Jugendliche besonders betroffen sind. Für diese Altersgruppe sind die Einschränkungen sehr belastend. Denn die Pubertät und die Jugend ist eine besondere Phase: Sie steht für Loslösung vom Elternhaus, erste Schritte in die Unabhängigkeit, für das Ausprobieren und Entdecken des eigenen Lebens und neuer Beziehungen, erste Partnerschaften entstehen. Das können Videochats nicht ersetzen. Wichtige Erfahrungen bleiben derzeit auf der Strecke. Ich finde es aber Wahnsinn, wie viele Jugendliche trotzdem mitziehen und sich vernünftig entwickeln.

Welche Auswirkungen wird das später einmal haben?

Das wissen wir nicht. Menschen sind sehr anpassungsfähig und können sich nach einer Krise wieder stabilisieren. Wir wissen aber auch, dass in der Phase von Kindheit und Jugend psychische Störungen oftmals beginnen und sich festsetzen können. Das ist ein sehr guter Grund, hier anzusetzen und in dieser Phase jungen Menschen zu helfen.

Welche Unterstützung kann man anbieten?

Nötig sind niedrigschwellige Angebote. Deshalb haben wir in Bochum mit einigen Schulen ein Pilotprojekt gestartet, in dem wir Jugendlichen zweistündige Kurzworkshops anbieten. Wir gehen in die Schulen und reden mit den Schülerinnen und Schülern über ihre Probleme und fragen, was ihnen auf der Seele liegt. Uns interessiert ihre gesundheitliche und psychische Situation, und wir machen den Jugendlichen Gesprächsangebote, geben ihnen Tipps und Anregungen.

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Worum geht es dabei?

Wir wollen den Jugendlichen zeigen, wie sie das Wohlbefinden und die eigene Stimmung auch in schwierigen Zeiten verbessern können. Bewegung ist wichtig, eine Tagesstruktur, Ernährung, Schlaf und auch der Medienkonsum. Das ist ein Riesenthema, denn wir wissen, dass ein ausufernder Medienkonsum mit Depressionen einhergeht. Das Angebot wird von den Schülern sehr gut angenommen, sie fühlen sich abgeholt und ernst genommen. Wir werden die Daten des Projekts in den kommenden Wochen auswerten und dann fundierte Aussagen über die Wirksamkeit der Interventionen machen können. Wir glauben, das Konzept ist hilfreich und würden es gerne ausweiten.

Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?

Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Befindlichkeit der Eltern und der ihrer Kinder. Sind die Eltern ängstlich oder angespannt, kommt das auch bei den Kindern an. Ein wichtiger vorbeugender Faktor sind Gespräche. Man sollte die eigenen Sorgen nicht verschweigen und klar sagen, dass es eine schwierige Zeit ist, aber dann sollte man auch den Blick nach vorne richten und vermitteln: gemeinsam schaffen wir es, wir sind den Einschränkungen nicht auf Dauer ausgeliefert. Eltern können zudem dafür sorgen, dass Kinder eine Tagesstruktur haben: Wecken, Aufstehen, Hausaufgaben machen, Mahlzeiten, genügend Schlaf, sich jeden Tag etwas Positives vornehmen, für Lichtblicke sorgen. Das ist extrem wichtig.

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Wie werden Jugendliche eines Tages auf die Pandemie-Jahre zurückblicken?

Damit wir gesund aus der Pandemie herauskommen, ist es wichtig zu sehen, was wir geschafft haben. Wir haben als Gesellschaft gemeinsam dazu beigetragen, das Virus einzudämmen. Wir haben gelernt, dass schwere Krisen kommen können und wir sie durchstehen und meistern können. Das ist eine gute Erfahrung und stärkt für die nächste persönliche Krise. Insofern kann Corona jungen Menschen ein Stück weit geholfen haben. Denn Leben bedeutet, sich Krisen zu stellen und Probleme zu lösen.

>>>> Zur Person:

Silvia Schneider leitet den Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Die 59-Jährige ist Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit (FBZ) der Fakultät für Psychologie in Bochum.

Das FBZ gilt mit über 50 Therapeuten zu den größten Forschungseinrichtungen seiner Art in Deutschland. In seinen Ambulanzen werden pro Jahr über 2000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit der gesamten Bandbreite psychischer Störungen behandelt.