Essen. Erstmals adaptiert eine Oper Lars von Triers filmisches Meisterwerk. David Hermann entwirft dafür einen Leidensweg im Essener Aalto-Theater.
Als Lars von Triers Film „Dogville“ 2003 in die Kinos kam, sorgte das für Furore. Da hatte ein Regisseur mit wenigen Kreidestrichen nach Brechts Vorbild eine Kleinstadt des Bösen entworfen und mit Schauspielern wie Nicole Kidman tief in die menschlichen Abgründe geblickt. Das preisgekrönte minimalistische Meisterwerk war wie geschaffen für das Theater. Nur ein Jahr später landete es auf den europäischen Schauspielbühnen, 20 Jahre hat es gedauert, bis sich das Musiktheater des Stoffes annahm. Komponist Gordon Kampe entwickelte daraus eine Oper in 18 Szenen für das Aalto-Theater. Am kommenden Samstag wird sie in einer temporeichen Inszenierung von Regisseur David Hermann uraufgeführt.
David Hermann war damals Mitte zwanzig und fasziniert von Lars von Triers kraftvoller Arbeit. Zuvor, während des Studiums an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin hegte er noch Zweifel, Regisseur zu werden, und überlegte, Medizin zu studieren. Der erste Preis beim Internationalen Wettbewerb für Regie und Bühnenbild in Graz, die Entdeckung künstlerischer Freiheit als Assistent bei Regielegende Hans Neuenfels und die ersten eigenen Produktionen verschafften ihm Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.
Regisseur David Hermann weiß Uraufführungen zu schätzen
Heute gehört er mit 60 Inszenierungen in zwei Dekaden zu den gefragten Opernregisseuren von Berlin bis Basel. Buhs, schlechte oder verhaltene Kritiken wie vor zehn Jahren bei „Macbeth“ in Essen machen ihn zwar traurig, bringen ihn aber nicht aus dem Tritt. Sein Spektrum ist breit. Es reicht von Wagner bis Verdi, von Janáček bis Beethoven. „Ich mag sperrige Stücke, die Widerstand leisten. Ich freue mich schon darauf, ,Parsival’ zu knacken. Händel reizt mich nicht so sehr, aber beim französischen Repertoire gibt es für mich einiges zu entdecken“, so Hermann, der unbekannte Kreationen zu schätzen weiß.
„Die Oper hat zu wenig Output an Uraufführungen. Sie geben einem die Möglichkeit, einen Musiktheater-Moment gemeinsam anzugehen“, meint er. Zuletzt geschah das vor 15 Jahren unter Intendant Stefan Soltesz mit Christian Josts „Die arabische Nacht“. Nun also Gordon Kampes Neukomposition „Dogville“, die der ehemalige Aalto-Intendant Hein Mulders angestoßen hatte und die wegen der Corona-Pandemie mit zwei Jahren Verzögerung auf die Essener Bühne kommt. David Hermann sagte erfreut zu, zumal er in Gordon Kampe einen Komponisten hatte, „der sich nicht hermetisch abriegelte und dem das Gesamterlebnis wichtig war. Wir hatten schon früh einen Bühnenbildentwurf. Der hat ihn sehr inspiriert“, erklärt David Hermann.
Offene Räume lassen exzessive Begegnungen klar erkennen
https://www.waz.de/staedte/essen/essener-aalto-opern-klassiker-und-ein-tramp-namens-chaplin-id235190529.htmlFür Kampes 18 Szenen schuf Jo Schramm einen schräg aufsteigenden Tunnel mit aneinanderliegenden Räumen, die sich 54 Meter über die Aalto-Bühne erstrecken. Ihre Offenheit und Reduktion, die exzessive Begegnungen erkennen lassen und die Sänger in den Fokus stellt, sowie das Gefühl der Gefangenschaft, scheinen zunächst die einzigen Anleihen an den Film zu sein. „Es ist so stark und klar, was Lars von Trier erfunden hat, dass wir uns gefragt haben, ob man etwas finden kann, was ähnlich stark ist. Das ist eine eigene Erzählung des Stoffes“, verdeutlicht David Hermann den Zugang zur Oper.
Es geht um Schuld und Vergebung, Macht und Moral, Bigotterie und das Böse im Menschen und um die schöne Grace, die auf der Flucht vor Gangstern, allen voran ihrem Vater, in der Kleinstadt Dogville strandet. Sie sucht Unterschlupf bei den rechtschaffenen Bewohnern und bietet jedem ihre Hilfe an. Doch als sie von der Polizei gesucht wird, kippt die Situation. Sie wird geschlagen, vergewaltigt, gedemütigt. „Sie gerät in ein System, in dem alles verroht. Grace ist eine christliche Figur. Sie hält die andere Wange hin. Sie ist geheimnisvoll und widersprüchlich und man fragt sich, warum sie das mit sich machen lässt“, beschreibt David Hermann den zentralen Charakter.
Die Figuren werden im hohen Tempo deutlicher gezeichnet
In seiner Inszenierung, die filmische Mittel außen vor lässt, bleibt ihm nur wenig Zeit, um die Figuren psychologisch auf den Punkt zu bringen und an emotionalen Bruchstellen nah dran zu bleiben. Der Abend dauert nur anderthalb Stunden. „Das Tempo ist sehr hoch. Nicht nur die Figuren werden musikalisch deutlicher gezeichnet, auch der Leidensweg von Grace wird deutlicher und dass sie aus diesem Kreuzgang nicht raus kann“, beschreibt der 46-Jährige sein Vorgehen. Verortet bleibt die Geschichte in Amerika, aber nicht in den Jahren der Depression, sondern in den 1970ern. „Das ist näher an unserer Gegenwart. Ich hatte kein Bedürfnis, sie in eine deutsche Kleinstadt zu verlegen. Da habe ich keinen Mehrwert gesehen“, sagt Hermann über die Produktion, die in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln gezeigt wird.
Und so endet sie, wie sie in einer klassischen Tragödie enden muss. „Bei uns nimmt Grace die Rache selbst in die Hand“, betont der Regisseur. Sie befreit sich und lässt ihren hohen moralischen Ansprüchen folgend eine Welt zerbrechen, wie man das sonst auf der Leinwand sieht - mit einem Showdown.