Essen. Abiturientinnen des Mädchengymnasiums Borbeck haben die Flucht sechs jüdischer Frauen 1945 aufgearbeitet – und dafür einen Preis erhalten.

Humboldtstraße/Ecke Regenbogenweg in Essen-Fulerum: Die Siedlung, nur ein paar Schritte vom geschäftigen Rhein-Ruhr-Zentrum entfernt, ist ein unauffälliger Ort. Die langgezogenen, hell gestrichenen Nachkriegs-Wohnblöcke mit gepflegten Grünanlagen drumherum und akkurat geschnittenen Hecken lassen nicht erahnen, dass dies in den letzten Monaten der Nazi-Diktatur ein beklemmender Ort des Horrors, der Todesangst und wohl auch des Todes war. Nur ein kleines Schild erinnert daran, dass die SS in dieser Stadtrand-Idylle 1944/45 ein Außenlager des KZ Buchenwald errichtet hatte. Eingesperrt hinter Stacheldraht lebten hier 520 Jüdinnen, die in der Gussstahlfabrik von Krupp als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt wurden.

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Über die Urkunde der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ freuen sich die Borbecker Abiturientinnen Amelie Sonntag (rechts) und Elisabeth Nierodkiewicz mit ihrer Geschichtslehrerin Nicole Greppel vom Mädchengymnasium Borbeck. Sie stehen an der Humboldtstraße / Einmündung Regenbogenweg in Fulerum. Genau dort befand sich 1944/45 das KZ-Außenlager für jüdische Zwangsarbeiterinnen.
Über die Urkunde der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ freuen sich die Borbecker Abiturientinnen Amelie Sonntag (rechts) und Elisabeth Nierodkiewicz mit ihrer Geschichtslehrerin Nicole Greppel vom Mädchengymnasium Borbeck. Sie stehen an der Humboldtstraße / Einmündung Regenbogenweg in Fulerum. Genau dort befand sich 1944/45 das KZ-Außenlager für jüdische Zwangsarbeiterinnen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Amelie Sonntag und Elisabeth Nierodkiewicz, Abiturientinnen des Mädchen-Gymnasiums Borbeck, haben ein anrührendes Kapitel aus der Geschichte dieses KZ-Außenlagers aufwendig aufgearbeitet: die Flucht von sechs jungen jüdischen Frauen und ihre Rettung durch couragierte Essener Frauen und Männer. Die Namen der Frauen sind Rene und Agnes Königsberg, Elisabeth und Erna Roth, Rosa Katz und Gisella Israel. Die „stillen Helden“, die sie beschützten, sind Erna und Gerhardt Marquardt, Karl Schneider, Erna Lippold, Gertrud Hahnen und Fritz Niermann. „Wir haben uns vor unserer Recherche niemals Gedanken darüber gemacht, welche Dramen sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft abgespielt haben“, sagen die Geschichtsforscherinnen.

Haus der Essener Geschichte hat das Projekt der Borbecker Schülerinnen unterstützt

Die beiden jungen Frauen hatten im vergangenen Schuljahr einen Zusatzkurs Geschichte (drei Wochenstunden) belegt und anfangs nicht geahnt, dass sie so tief in den Abgrund schauen würden. Je tiefer sie in das Schicksal der sechs Frauen eindrangen, die damals fast genauso alt waren wie sie heute, desto stärker wurde ihr Forscherdrang. Mit den ursprünglich geplanten drei Stunden Recherchearbeit im Haus der Essener Geschichte kamen sie nicht aus. „Wir waren so ergriffen vom Schicksal der Frauen, dass wir meistens zwei Stunden länger im Archiv blieben.“

Rosa Katz war Häftling im Essener KZ-Außenlager.
Rosa Katz war Häftling im Essener KZ-Außenlager. © Haus der Essener Geschichte

Das Ergebnis ihrer geschichtswissenschaftlichen Arbeit geht weit über das schulisch Verlangte hinaus: Die beiden Essenerinnen haben mit ihrer Arbeit am Jugendwettbewerb „Remember Resistance 33-45“ der Gedenkstätte „Deutscher Widerstand“ und des Vereins „Gegen das Vergessen – Für Demokratie e. V.“ teilgenommen und dafür einen Preis erhalten. Das Preisgeld steckten sie in eine Wanderausstellung, die am 18. Januar zum ersten Mal im Mädchengymnasium Borbeck gezeigt wird und dann in Essen auf Reisen geht.

Mehr noch: Vom Team des Stadtarchivs inspiriert haben Amelie Sonntag und Elisabeth Nierodkiewicz den gut sieben Kilometer langen Fluchtweg der sechs Jüdinnen mitten durch Essen auf der „Biparcours App“ festgehalten. Ein fünf Minuten langes Video rundet die Nachforschungen ab: Es zeigt den genauen Fluchtweg und erzählt die ergreifende Geschichte der jungen Frauen.

„Wir sind jeden Meter des Weges abgelaufen, den die Frauen bei ihrer Flucht in der Bombennacht im Frühjahr 1945 zurückgelegt haben“, berichten die Geschichtsforscherinnen. Sie haben versucht, sich in die Lage der Frauen hineinzuversetzen, und Amelie Sonntag fragt sich immer noch: „Wie haben sie es bei dieser langen Strecke geschafft, nicht erwischt zu werden?“

Jüdische Zwangsarbeiterinnen: kahlgeschorene Köpfe, Sträflingskleidung, Holzpantinen

Jahrzehnte nach ihrer Rettung besucht Erna Anolik, geborene Katz, ihre Retter: Erna und Gerhard Marquardt.
Jahrzehnte nach ihrer Rettung besucht Erna Anolik, geborene Katz, ihre Retter: Erna und Gerhard Marquardt. © Haus der Essener Geschichte

Weil die Geschichte der sechs Jüdinnen im Haus der Essener Geschichte und hier insbesondere im Ernst-Schmidt-Archiv anhand von Briefen, Notizen, Fotos und Gesprächsprotokollen umfassend dokumentiert ist, weiß man, dass die kahlgeschorenen Frauen damals Sträflingskleidung und Holzpantinen trugen, als sie die ebenfalls sieben Kilometer lange Strecke vom KZ-Lager zum Walzwerk II bei Krupp täglich zu Fuß zurücklegen mussten. Weil weite Teile Essens nach den schweren Bombardements der Alliierten in Schutt und Asche lagen, hatte die Straßenbahn 1945 längst den Betrieb eingestellt. „Wir vermuten, dass die Frauen abgemagert und erkrankt waren“, sagen die Abiturientinnen.

Die glückliche Flucht der sechs jungen Frauen handelt nicht nur von der Bestialität des verbrecherischen NS-Regimes, das sechs Millionen europäische Jüdinnen und Juden systematisch ermordete, sondern auch vom exakten Gegenteil: von den so genannten „stillen Helden“, die die Fackel der Menschlichkeit in der Stunde ärgster Finsternis unerschrocken hochhielten. „Die Frauen, die von den Familien Marquardt und Niermann versteckt wurden, haben später zu Protokoll gegeben, dass sie geradezu königlich behandelt worden seien“, berichten Amelie und Elisabeth. Und fügen hinzu: „Es ist anrührend, was die Retter geleistet haben, sie haben ihr eigenes Leben riskiert.“

Brief aus den USA nach Essen: „Aber die Hauptsache ist, dass wir da sind“

„Aber die Hauptsache ist, dass wir da sind“, schrieben Erna und Elisabeth Roth den Marquardts erleichtert am 11. März 1948 unmittelbar nach der Ankunft in den USA, ihrer neuen Heimat. Derselbe Satz ist auch Titel der Wanderausstellung.

Jahre nach ihrer Rettung sind einige der Frauen noch mal wieder nach Essen zurückgekommen, um sich mit den Rettern zu treffen und persönlich Danke zu sagen. „Sie haben Essen wie eine zweite Geburt empfunden“, sagen Amelie Sonntag und Elisabeth Nierodkiewicz. Das haben sie auch in Erfahrung gebracht, weil sie fast 90 Jahre nach der wundervollen Rettung Kontakte zu Enkeln und anderen Nachfahren der Frauen geknüpft haben: in E-Mails, Briefen und Zoom-Konferenzen.

Den beiden Essenerinnen ist es eindrucksvoll gelungen, ein schwieriges historisches Thema auf moderne Weise und mit den medialen Werkzeugen von heute aufbereitet zu haben: mit App, QR-Code, Smartphone und Video. Sie empfehlen, den Fluchtweg der jungen Jüdinnen in einer kleinen Fahrradtour mit Hilfe der Biparcous-App abzufahren, und wünschen unbeschwert „viel Spaß beim Eintauchen in diese berührende Geschichte“.