Essen. Die sechs jüdischen Frauen und ihre Retter aus Essen: Ein historischer Rückblick auf die Ereignisse in die Endphase der Nazi-Diktatur.

„Stille Helden aus Essen“ – so hat der Historiker H. Walter Kern sein Buch über Essenerinnen und Essener betitelt, die der NS-Diktatur widerstanden haben. Ein Kapitel widmet der frühere Lehrer der Frida-Levy-Gesamtschule den sechs Jüdinnen und ihren Rettern.

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Eine schlecht lesbare Gedenktafel an der Ecke Humboldtstraße / Regenbogenweg erinnert heute an den Standort des KZ Außenlagers.
Eine schlecht lesbare Gedenktafel an der Ecke Humboldtstraße / Regenbogenweg erinnert heute an den Standort des KZ Außenlagers. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Die Frauen haben eine Odyssee hinter sich, als sie im Herbst 1944 in Essen eintreffen. Sie gehören zu 2000 ungarischen Juden, die im Mai nach Auschwitz deportiert worden sind: ins Vernichtungslager. Weil die Ruhrindustrie dringend Arbeitskräfte benötigt, bringt die SS aber 2000 junge Frauen nach Gelsenkirchen. 520 von ihnen werden im August 1944 in das KZ-Außenlager an der Humboldtstraße verlegt, direkt an der Stadtgrenze zu Mülheim. Krupp braucht die Zwangsarbeiterinnen im sieben Kilometer entfernten Walzwerk II in Altendorf. Die Schichten dauern zwölf Stunden.

In einer Veröffentlichung des Fördervereins Buchenwald e. V. heißt es, dass mindestens acht Frauen in Essen umgekommen sind: durch Tuberkulose, Erfrierungen oder Misshandlungen. Bei einem Bombenangriff der Alliierten Ende Februar/Anfang März 1945 gelingt den sechs ungarischen Frauen die Flucht. Am 17. März 1945, gut drei Wochen vor dem Einmarsch der Alliierten in Essen, wird das KZ-Außenlager aufgelöst. Die verbliebenen Häftlinge kommen zurück nach Buchenwald und von dort nach Bergen-Belsen. Die meisten, so heißt es, sollen dort von den Briten befreit worden sein.

Zwölf-Stunden-Schichten bei Krupp, lange Fußmärsche, nachts im Barackenkeller

Untergebracht sind die jüdischen Frauen an der Humboldtstraße zunächst in vier Schlafbaracken, bewacht von einem SS-Kommando. Weil die Unterkünfte bei Luftangriffen zerstört werden, müssen die Frauen die kalten Nächte im Keller einer Baracke zubringen. Waschgelegenheiten gibt es nicht mehr.

Die sechs jüdischen Zwangsarbeiterinnen – die Geschwisterpaare Roth und Königsberg, sowie Rosa Katz und Gisella Israel – nutzen einen Luftangriff, um unterzutauchen. Sie irren sieben Kilometer durch die zerbombte Stadt: über die Kruppstraße zur Wickenburg, an der Alfred-Krupp-Schule und am Westbahnhof vorbei bis zum jüdischen Friedhof am Reckhammerweg. Dort verstecken sie sich zunächst im Keller der Leichenhalle.

Drei Tage später gewähren ihnen der Krupp-Mitarbeiter Gerhard Marquardt und seine Frau Erna Unterschlupf und versorgen sie mit Lebensmitteln. Es ist ein menschlicher, aber auch äußerst mutiger Akt: Hätten die Nazis davon erfahren, wären sie womöglich an die Wand gestellt und standrechtlich erschossen worden. Das ist üblich in den chaotischen letzten Tagen vor dem Zusammenbruch, Historiker sprechen von den berüchtigten „Endphaseverbrechen“. Dazu zählen auch die Todesmärsche von KZ-Häftlingen.

Bei den Essener Rettern gibt’s das erste Bad seit einem Jahr und richtige Betten

Weitere Essener helfen den Jüdinnen: Karl Schneider, ebenfalls ein Kruppianer, gehört dazu, sowie Fritz Niermann, Erna Lippold, Gertrud Hahnen und Peter Wirtz. Rosa Katz kommt sogar bei einem SA-Mann unter. Bei den Niermanns nehmen die Frauen das erste Bad seit einem Jahr, sie schlafen in richtigen Betten, nicht mehr auf Stroh.

Bis zum Einmarsch der Alliierten bleiben die sechs Frauen in ihren Altendorfer Verstecken in Sicherheit. Rosa Katz wandert später nach Venezuela aus, die Königsberg- und Roth-Schwestern emigrieren in die USA, nur Gisella Israel kehrt nach Ungarn zurück. Viele ihrer Angehörigen sind in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben gekommen.

Erna Roth sagt im Nürnberger Prozess gegen Krupp aus und gibt als inzwischen verheiratete Erna Anolik dem USC Shoah Foundation Institute 2009 ein erschütterndes Videointerview. Unter Tränen berichtet sie darin von der entwürdigenden Ankunft in der Hölle von Auschwitz, davon wie man ihr den Kopf rasiert, sie vor den Augen der SS-Männer entkleidet und in graue Sträflingskleidung ohne Unterwäsche steckt.

In Essen erinnert der Fritz-Niermann-Platz nahe dem Niederfeldsee in Altendorf an einen der „stillen Helden“.