Essen. Unterkünfte laufen voll: Thomas Kufen sieht auf Essen harte Zeiten zukommen und fordert eine andere, am Bedarf orientierte Einwanderungspolitik.

Oberbürgermeister Thomas Kufen hat bei Bund und Land mehr Hilfen bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme und Integration angemahnt. Auf Essen und andere große Städte sieht er schwierige Zeiten zukommen. „Wir haben seit Februar 2022 schon jetzt bei weitem mehr Flüchtlinge aufgenommen als in den Jahren 2015/16“, so Kufen. Bisher sei die Lage nur deshalb einigermaßen beherrschbar, „weil zwei Drittel der Flüchtlinge aus der Ukraine bei Freunden, Bekannten oder anderen Essener Familien untergekommen sind“. Am Dienstag (6.12.) teilte die Stadtverwaltung mit, dass mit dem ehemaligen Dorint-Hotel an der Müllert-Breslau-Straße in Rüttenscheid eine weitere Belegungsreserve in Betrieb geht. Kufen spricht in der Flüchtlingsfrage nicht nur als Essener OB, sondern auch als Vorsitzender des Städtetags NRW.

Herr Kufen, müssen sich die Essener Bürger bald wieder auf Belegung von Turnhallen und ähnliche Einschränkungen einstellen?

Mein Ziel ist es nicht nur, die Belegung von Turn- und Sporthallen, sondern auch die Belegung von Messehallen zur Unterbringung von Flüchtlingen zu vermeiden. Aber niemand weiß, wie sich das Kriegsgeschehen und der Winter in der Ukraine weiterentwickeln. Darüber hinaus muss ich davon ausgehen, dass uns zwei größere Flüchtlingsunterkünfte in den ehemaligen Krankenhäusern in Altenessen und Stoppenberg im Jahr 2023 nicht uneingeschränkt zur Verfügung stehen werden. Wir suchen fieberhaft weitere Unterbringungskapazitäten.

Sie sagten es schon, der Winter ist die große Unbekannte in der Rechnung.

Die russische Aggression richtet sich immer mehr gegen die zivile Infrastruktur, wie Umspannwerke oder Elektrizitätswerke in den ukrainischen Städten. Strom und Wasser sind bereits rationalisiert. Ich stehe im regelmäßigen Austausch mit meinem Amtskollegen in Riwne im Nord-Westen der Ukraine. Die Lage der Bevölkerung ist dramatisch. Die russischen Raketen und Drohnenangriffe sollen eine Flüchtlingswelle auslösen und den Westen destabilisieren. Darüber hinaus steigt auch die Anzahl der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten über die Balkanroute wieder an. Offensichtlich ist das auch eine Auswirkung der großzügigen Visapolitik Serbiens. Hier gibt es eine klare Verbindungslinie zu Russland.

„Vermittlung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt verläuft bis heute oft schleppend“

Die Kommunen stehen am Ende der Kette. Was können Städte wie Essen eigentlich machen, um die Dinge beherrschbar zu halten?

Wir tun das, was wir tun können. Nach der Unterbringung und der Versorgung von Flüchtlingen stehen für uns die Themen Vermittlung von Wohnraum, von Kita- und Schulplätzen an. Bei all diesen drei Themen spitzt sich die Lage immer weiter zu. Daher bin ich den Essenerinnen und Essenern sehr dankbar für ihre Hilfsbereitschaft und die Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine. Da ukrainische Männer der Wehrpflicht unterliegen und ihre Region nicht verlassen dürfen, handelt es sich bei den Flüchtlingen überwiegend um ältere Menschen sowie um Frauen mit ihren Kindern. Die Solidarität ist sehr groß, aber auch die Dankbarkeit der Flüchtlinge selbst. Das macht sich in den Flüchtlingsunterkünften und auch in den mit den Flüchtlingen befassten Dienststellen der Stadt bemerkbar.

Inwiefern?

Die Flüchtlingskrise 2015/16 war auch mit sehr vielen Stresssituationen verbunden. Rechtsgrundlagen und Kostenübernahmen waren nicht klar. Die Integration mittels Sprache oder die Vermittlung in den Arbeitsmarkt verläuft bis heute oft nur schleppend. Auch weil berufliche Qualifikationen nicht vorhanden sind oder nicht anerkannt werden. Die Menschen aus der Ukraine sind im Vergleich besser ausgebildet, sprachlich versierter und gut vernetzt. Und sie wollen möglichst schnell arbeiten.

Ist ihnen das denn möglich?

Ja. Denn für die Ukrainerinnen und Ukrainer gilt nicht das Asylbewerberleistungsgesetz, sondern das sogenannte Sozialgesetzbuch II. Sie können sofort arbeiten. In Essen haben 40 Prozent der erwerbsfähigen Menschen aus der Ukraine einen Universitätsabschluss. Sie sind also gut ausgebildet und sind bereit, auch unterhalb ihrer Qualifikation, zum Beispiel in Pflege- oder in Dienstleistungsberufen zu arbeiten. Allerdings wollen die meisten ukrainischen Flüchtlinge schnell wieder zurück zu ihren Familien, ihren Männern, Vätern oder Brüdern.

„Bürgergeld, Wohngeld, erleichterte Einbürgerung - in Berlin wird nicht mitgedacht, wie das alles in den Städten umgesetzt werden soll“

Mehr Probleme machen anscheinend die Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und Irak, die selten als asylberechtigt anerkannt werden, vielmehr einen Weg zur Einwanderung suchen...

...und dafür ist unser Asylrecht nicht vorgesehen. Hierfür muss es ein Einwanderungsgesetz geben.

Wird auf den staatlichen Ebenen genug getan, um die Städte vor Überforderung zu schützen?

Was soll ich sagen? Inzwischen hat es einen ersten Austausch zwischen dem Bund und sowie dem Land und den Kommunen gegeben. Finanzielle Zusagen sind gemacht worden. Es ist wichtig, diesen Gesprächsfaden jetzt nicht abreißen zulassen. Wir sind aber noch nicht durch. Es hat sehr lange gedauert, bis auf Bundes- und Landesebene überhaupt wahrgenommen wurde, wie sich die Flüchtlingssituation in den Städten entwickelt hat. Wir erwarten zum Beispiel, dass das Land seine Anstrengungen, eigene Unterkünfte vorzuhalten, deutlich erhöht und nur die Flüchtlinge auf die Kommunen verteilt werden, die auch eine Bleibe-Perspektive haben.

In der Bundesregierung plant man das Gegenteil: Das Bleiben soll durch schnellere Einbürgerung noch erleichtert werden.

Das ist zumindest der falsche Zeitpunkt. Ob beim Bürgergeld, beim Wohngeld oder bei der erleichterten Einbürgerung – ich habe den Eindruck, dass in Berlin nicht mitgedacht wird, wie das alles umgesetzt werden soll. Das sind genau die Ämter, die ohnehin schon völlig überlastet sind. Ich fühle mich daran erinnert, wie die Kommunen Ende 2020 Impfzentren aufbauen sollten, ohne ausreichenden Impfstoff zu haben. Jetzt werden Leistungen versprochen, die administrativ erst in Monaten erbracht werden können. Beim Wohngeld steht noch nicht einmal die richtige Software zur Verfügung. Solche Aktionen erschüttern das Vertrauen in staatliches Handeln. Dazu gehören auch Themen aus dem Bereich Zuwanderung und Integration.

„Wenn Tischler gebraucht werden, dürfen auch nur Tischler kommen und keine Klempner“

Unglücklicherweise scheint die Zuwanderung, wie wir sie derzeit betreiben, die Gesamtbilanz eher ins Negative zu ziehen – siehe die hohen Anteile von Zuwanderern, die Transfermittel beziehen.

Wenn wir ein Einwanderungsland sein wollen, dann brauchen wir auch die Regeln wie ein Einwanderungsland. Wenn Tischler gebraucht werden, dürfen auch nur Tischler kommen und keine Klempner. Einwanderung nach Deutschland passiert aber nicht über eine in Deutschland benötigte Qualifikation, sondern wie gesagt fast immer noch über den Asyl-Paragrafen. Voraussetzung für die Gewährung von Asyl ist aber, dass der Geflüchtete durch den Staat im eigenen Herkunftsland politisch verfolgt wurde.

Gibt es überhaupt etwas, das aus Sicht der Städte in die richtige Richtung läuft?

Natürlich. Wir sind ein starkes Land. Unsere Generation sieht sich aber einer regelrechten Multikrise ausgesetzt: Corona ist noch nicht vorbei. Es gibt wieder einen Angriffskrieg in Europa. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Dazu kommen rasant steigende Energie- und Lebensmittelkostenknappheit, Inflation und Zinsen steigen. Das sind schon große Herausforderungen, vor denen wir stehen, und eine Bewährungsprobe. Jede einzelne Krise birgt die Gefahr, dass sie Extremisten in die Hände spielt und unsere Gesellschaft auseinanderfliegt. Mein Job ist es, Essen zusammenzuhalten.