Essen. Wenige Tagen nach den Schüssen auf das Rabbinerhaus kehrt in der Alten Synagoge in Essen wieder Normalität zurück. Eindrücke vom Tatort.
Drei Tage nach den heimtückischen Schüssen auf das ehemalige Rabbinerhaus neben der Alten Synagoge in Essen kehrt allmählich wieder so etwas wie Normalität zurück. Zwar heftet noch der am Freitagmorgen hastig angeklebte Zettel „Die Alte Synagoge bleibt heute geschlossen“ an der schweren Eingangstür zum Kulturinstitut – aber wohl nicht mehr lange. „Die Alte Synagoge wird am Dienstag wieder zu gewohnten Zeiten geöffnet haben“, teilt das Presseamt am Montag (21. November) mit.
Schon seit Jahren zählt der imposante Gebäudekomplex aus dem Jahr 1913 zu den am besten bewachten Objekten der Stadt. Doch nach dem möglicherweise antisemitisch motivierten Anschlag vom vergangenen Donnerstagabend hat das Polizeipräsidium erneut Verstärkung zum Edmund-Körner-Platz geschickt. Gegen 10.30 Uhr an diesem nass-kalten und regnerischen Novembermorgen rollt sogar ein dritter Streifenwagen vor, auch am Parkhaus an der Alfredistraße hat ein Polizeiwagen Posten bezogen. Nicht zu vergessen die massive Videoüberwachung: Alle paar Meter haben sie Kameras an die Fassade geschraubt, fast zwei Dutzend an der Zahl. Dass sie offenbar nur beschränkt aussagekräftiges Bildmaterial liefern, wie die Polizei mitteilt, irritiert dann doch. Offenbar sollen die alten bald gegen bessere Kameras ausgetauscht werden.
Die beschossene Fensterscheibe aus Panzerglas ist schon ausgebaut
Am Tatort selbst, dem Fenster neben der Eingangstür zum Rabbinerhaus, haben Handwerker inzwischen die mehrfach getroffene Panzerglas-Scheibe ausgebaut und eine Spanplatte eingehängt. Nur das bald fingerdicke Einschussloch im Fensterrahmen ist noch deutlich zu sehen.
Die Ermittlungen der Essener Polizei laufen seit Freitagmorgen mit hohem Personalaufwand auf Hochtouren. Seitdem ein Foto aus der Überwachungskamera veröffentlicht ist, hegen die Fahnder die Hoffnung, der dort abgebildete Zeuge könne schnell gefunden und die Ermittlungen um das entscheidende Puzzlestück voranbringen.
Wo mag der Schütze gestanden haben, als er am späten Donnerstagabend (17. November) um kurz vor Mitternacht vier Mal abdrückte? Auf jeden Fall nur wenige Schritte von den beiden Stolpersteinen entfernt, die an Albert und Meta Heidt erinnern: Zwei Essener Juden, die hier im Rabbinerhaus wohnten und 1942 zuerst deportiert und dann von den Nazis im KZ ermordet wurden – er in Treblinka, sie in Sobibor.
Nah am mutmaßlichen Standort des Schützen liegen zwei Stolpersteine im Pflaster
Albert Heidt, Jahrgang 1868, war einst Küster in der Essener Synagoge, einer der größten und schönsten im Kaiserreich. Als SA-Leute und Nazi-Mob das Gotteshaus am 9. November 1938, in der Reichspogromnacht, in Brand steckten, hat er mitansehen müssen, wie die Thorarolle ein Raub der Flammen und zerstört wurde. Fast 84 Jahre später, in diesem Sommer, ist ein in Ecuador lebender Nachfahre des Küsters nach Essen gekommen, um an der neuen Thorarolle mitzuschreiben: ein hochemotionaler Augenblick für die jüdische Gemeinde dieser Stadt.
Wolfgang Zowierucha (69), ein Rentner aus Altenessen, ist an diesem Morgen auf dem Weg zum Kurs beim Katholischen Bildungswerk direkt nebenan und hält kurz am Tatort inne. Er versuche nachzuempfinden, was die Schüsse mit den Menschen machen, die dort arbeiten, sagt er. „Solange der oder die Täter nicht gefasst sind, müssen sie mit der Angst leben.“ Er bezeichnet sich als „katholischen Christen“ und fügt hinzu, dass er schon häufiger in der Alten Synagoge gewesen sei, er habe sich später von einem jüdischen Fachmann in die Thorakunde einweisen lassen, ja, und in Auschwitz, so berichtet er, sei er auch gewesen. Die Schüsse auf das Rabbinerhaus hätten zwar niemanden verletzt, aber sie seien trotzdem schrecklich: „Eine Bedrohung.“
Rußgeschwärzte Backsteinfassade gegenüber erinnert an die Pogromnacht von 1938
Auf der Steeler Straße direkt gegenüber vom Rabbinerhaus erhebt sich das Haus der Altkatholiken. Dass große Flächen der roten Backsteinfassade schwarz sind, hat einen naheliegenden Grund. Es sind Rußspuren der Pogromnacht von 1938: ein beklemmendes Symbol für das, was mörderischer Antisemitismus anzurichten vermag.
Die Alten Synagoge samt Rabbinerhaus sind zwar herausragende Erinnerungsorte, doch eine Institution jüdischen Lebens sind sie schon lange nicht mehr. Das jüdische Gemeindeleben spielt sich seit 1959 in der neuen Synagoge an der Sedanstraße ab. Dort und nicht hier an der Steeler Straße werden die Schabbat-Gottesdienste gefeiert und hohe Feiertage und wie Rosh Hashana (Neujahr), Channukka, Pessach und Jom Kippur begangen.
Als Kulturinstitut der Stadt Essen vermittelt die Alte Synagoge Kenntnisse über jüdische Religion, Kultur und Geschichte. Deshalb ist sie heute ein sehr weltlicher Ort: Rein statistisch gesehen sind 99 Prozent der Besucher Nicht-Juden. Eine nicht unwesentliche Facette des jüngsten Anschlags: Hinter dem Fenster, in das die Kugeln einschlugen, arbeiten Mitarbeiter des Instituts für Gesundheitsökonomie der Uni Duisburg-Essen.
Dennoch zieht das Gebäude immer wieder fanatische Judenhasser an. Der Historiker Dr. Uri Kaufmann (64), Leiter der Alten Synagoge und Jude, bekommt den Antisemitismus immer wieder zu spüren. Er ist ein wacher politischer Beobachter und einer, der Antisemiten kämpferisch die Stirn zeigt. Wer Kaufmann kennt, weiß, dass er sich durch die Schüsse nicht einschüchtern lässt. Die Alte Synagoge jetzt längere Zeit zu schließen, wäre für ihn ein Akt der Kapitulation – und für den Schützen womöglich ein kleiner Triumph.
Am Montagmorgen hat Uri Kaufmann seinen Dienst wie eh und je angetreten. Bloß nicht klein beigeben. Das hat er auch im Juli 2014 nicht getan, als fanatische Palästinenser und gewaltbereite Hamas-Anhänger anti-israelische Parolen skandierten und Gefahr im Verzuge war. Bis Feierabend hielt er brav und unerschrocken Stellung hinter den geschichtsträchtigen Mauern – mit der festen Überzeugung, dass Recht und Gesetz stärker sind als hasserfüllter Mob.
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