Essen. Neue Lieder und alte Blumfeld-Songs: Jochen Distelmeyer sorgt für „Gefühle Wahrheiten“ und wahre Begeisterungsstürme in der Essener Zeche Carl.
„Gefühlte Wahrheiten“ lautet der Titel des aktuellen Albums von Jochen Distelmeyer, das der einstige Kopf der Hamburger Schul-Band Blumfeld nach Jahren musikalischer Abstinenz veröffentlicht hat. Auch das noch, mag mancher denken, reicht nicht die nervtötende Auseinandersetzung zwischen objektivierbaren, wissenschaftlich erhärteten Fakten und den quergedachten Pseudo-Fakten, müssen jetzt auch noch gefühlte Wahrheiten weiteres Chaos stiften? Gemach, bei Distelmeyer, der bereits mit dem ersten Lied „Zurück zu mir“ wahre Begeisterungsstürme unter den knapp 300 Fans in der gut besuchten Zeche Carl auslöste.
„Das ist Energie, das ist das Ruhrgebiet“, freut sich Distelmeyer
Bei Distelmeyer geht es um den politischen Diskurs bestenfalls über Bande, im Fokus stehen vielmehr ganz private Wahrheiten. Mit dem zweiten Lied „Lass uns Liebe sein“, gibt der 55-jährige Musiker den Kurs vor, auf dem gefühlte Wahrheiten zu unumstößlichen Wahrheiten werden. Wie etwa das Gefühl, das einen beseelt, wenn der erste Blick ein Füreinanderbestimmtsein manifestiert. Dann ist es gleich, ob man es Karma, Kairos oder „Kismet“ nennt, oder den Zustand des Verliebtseins wie in „Im Fieber“ als einen fiebrigen Infekt diagnostiziert
Innerhalb kürzester Zeit hat sich Distelmeyer in ein musikalisches Fieber gespielt, wenngleich seine Band (Keyboards, Bass, Schlagzeug) eher entspannte Grooves, gelegentlich mit Country-Provenienz, zuliefert. In nahezu unbändiger Spielfreude wechselt er für jeden Song seine Akustik-Gitarre, damit der Sound mal eine melodische Begleitung, mal rockige Härte unterstreicht. „Das ist Energie, das ist das Ruhrgebiet“, freut sich Distelmeyer.
„Jochen, ich liebe Dich“, ertönt es von der Galerie
Auch das Publikum, vom Altersschnitt weit von jeglicher Teenie-Ekstase entfernt, hält mit seinen gefühlten Wahrheiten nicht hinterm Berg. „Jochen, ich liebe Dich“ ertönt plötzlich eine weibliche Stimme von der Galerie, „Ich Dich auch“ antwortet eher trocken der gebürtige Ost-Westfale, um dann weiter Musik zu machen.
Wenn es darum geht, Liebessehnsüchte zu beschreiben, unternimmt er eine textliche Gratwanderung zwischen sehr intimen, unverbrauchten Bildern und Klischees, die eher aus der schmachtenden Schlagerkiste zu stammen scheinen. Allerdings eröffnen diese Gegensätze stets einen reizvollen Spannungsbogen. Dass nicht jede Liebe im siebten Himmel endet, beschreibt „Toxic“, ein Cover von Britney Spears, die hinsichtlich vergiftetet Beziehungen durchaus als Expertin gelten darf.
Mit „Tics“ und „Eintragung ins Nichts“ folgen einige Blumfeld-Lieder, ohne die die begeisterten Fans vermutlich nicht restlos zufrieden nach Hause gegangen wären. Erst das von Distelmeyer und Publikumschor gemeinsam inbrünstig gesungene „Wir sind frei“ schließt den Kreis zwischen exzellentem aktuellem Werk und nostalgischer Rückbesinnung.