Essen. Warum Ben Van Cauwenbergh nach David Dawsons moderner „Giselle“ seine klassische Choreographie des berühmten Balletts am Aalto-Theater zeigt.
Es gibt Rollen, die sind für Balletttänzerinnen und Balletttänzer der Traum ihrer schlaflosen Nächte. „Giselle“, Titelfigur des gleichnamigen Meisterwerks, und ihr angebeteter Albrecht gehören dazu. „Sie sind ein Muss für jede Tänzerkarriere“, sagt Ben Van Cauwenbergh. Der Ballettintendant, der stets Tradition und Moderne in seine Stilvielfalt einbindet, hat ihn als Erster Solist in London verkörpert. Gemeinsam mit Monique Janotta, Ballettmeisterin und ehemalige Primaballerina der Deutschen Oper am Rhein, studiert er den beliebten Klassiker in eigener Choreographie für die Bühne des Aalto-Theaters ein.
Die Essener Tänzer proben, bis alles schwerelos aussieht
Das Ensemble des Aalto-Balletts hockt an den Seiten des Probenraums. Beine werden gedehnt. Die Probe des zweiten Akts steht an. Ekaterina Mamrenko durchmisst in großen Sätzen den Raum. Sie bricht ab, schüttelt unzufrieden den Kopf, versucht es noch mal. Bis Monique Janotta ihr zunickt. Sie ist die Zweitbesetzung von Myrtha, die Königin der tanzwütigen Wilis, und muss gut springen können. Das Ensemble trippelt, schreitet, schwebt über den Boden. Im Vordergrund üben Rosa Pierro und Ige Cornelis formvollendete Hebefiguren für die Zweitbesetzung von Giselle und Albrecht. Hinter ihnen versetzt sind es Yuki Kishimoto und Artem Sorochan, die Erstbesetzung. Romantisch erscheint hier nichts. Es gibt nur Arbeit, Schweiß und einen langen Atem, bis alles schwerelos erscheint.
Später auf der Bühne des Dorin Gal wird man es sehen, dass „Giselle“ der Inbegriff des romantischen Balletts ist, entstanden in einer Zeit, als Elfen, Feen und Geister die Kunst bevölkerten. Die typische Dorfidylle im ersten Akt verwandelt sich im zweiten Akt in eine nächtliche Geisterwelt. 1841 erschufen es Jean Coralli und Jules Perrot unter anderem zu der Musik von Adolphe Adam. Der späteren Überarbeitung von Marius Petipa ist es wohl zu verdanken, dass das Werk bis in die heutigen Theaterspielpläne gerettet werden konnte.
Giselle, ein Mädchen vom Lande zwischen zwei Männern, erlebt Liebe und Verrat und zerbricht daran. Sie betet den adligen Albrecht an, der ihr seine Verlobung verheimlicht und von dem eifersüchtigen Hilarion denunziert wird. Sie stirbt an gebrochenem Herzen und verwandelt sich in eine untote „Wili“. Die Handlung des Balletts geht auf einen Text Heinrich Heines zurück, der diese Geisterwesen beschreibt: Es sind Bräute, die vor der Hochzeit starben und junge Männer mit ihrer Tanzlust in den Tod reißen. Auch Albrecht muss bis zur Erschöpfung tanzen. Nur Giselles Liebe kann ihn retten.
Der Staub von rund 180 Jahren soll weggewischt werden
Ben Van Cauwenbergh fühlt sich dem Geist der Romantik und dem Original verpflichtet. Dennoch passt er die Choreographie seinen Tänzerinnen und Tänzern an. Das Kunststück der 30 entrechats six wird es bei ihm nicht geben, aber die Perfektion des klassischen Balletts, das in seinen Augen aus Kostengründen immer mehr verliert, sowie die schauspielerischen Anforderungen. „Meinen Respekt für David Dawson, der hier vor acht Jahren seine moderne Choreographie gezeigt hat. Doch mir hat in meiner Zeit noch die traditionelle ,Giselle’ gefehlt, meine Interpretation“, erklärt er den erneuten Zugriff auf den publikumswirksamen Stoff.
Auf seine Art soll der Staub von rund 180 Jahren weggewischt werden. Mit einer Gruppe von Kindern des Werdener Tanz-Gymnasiums will er die Szenerie erfrischen und zugleich tief eintauchen in die Welt der Liebenden. Man muss mit viel Gefühl reinkommen und dranbleiben“, erklärt er und zeigt auf sein Herz. „Hilarion liebt Giselle wirklich und auch für Albrecht ist sie nicht nur ein Flirt“, meint er und steigert so die Fallhöhe.
Dass man „eine wahnsinnig gute Technik haben muss“, versteht sich bei diesem Klassiker von selbst. „Man darf sich keinen Fehler leisten. Die Schritte sind da. Es kommt darauf an, wie du sie darstellst. Es sind eben nicht nur Pirouetten und Arabesque. Jeder Schritt erzählt etwas“, so Van Cauwenbergh. Deshalb hat er Monique Janotta als Ballettmeisterin engagiert. Sie war lange als Primaballerina in Düsseldorf verpflichtet und kennt „Giselle“ in- und auswendig.
Gelernt hat sie dort in jungen Jahren vor allem von dem früheren Ballettchef Erich Walter. „Die Rückenarbeit ist wichtig, die Armtechnik ist eine richtige Herausforderung. Die Arme müssen wie unter Wasser aussehen. Aber das Schauspiel ist das Schwierigste für einen Tänzer“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Nur mit darstellerischer Kraft wirkt die Wahnsinnsszene am Ende des ersten Akts glaubwürdig. Oder „das traurige Ende, wenn die Liebe nicht zur Geltung kommt. Die Blumen bleiben vor ihr liegen. Er muss zurück ins Leben“, sagt sie. „Man muss es nehmen wie ein Theaterstück, nicht wie ein Ballett.“