Essen. Bei Anzeichen auf Schlaganfall sollte man sofort 112 wählen. Ein Essener Mediziner erzählt, warum manche Betroffene leider keinen Notarzt rufen.
Inge Scheffler (79) erinnert sich gut an jenen Oktobertag vor sechs Jahren, als sie morgens aufstand und ihr rechter Arm so seltsam schlaff war, wie eingeschlafen. Stutzig wurde sie jedoch erst, als ihr auf dem Weg zur Toilette auch das Bein wegknickte. Sie rief ihre Tochter, die im selben Haus wohnt. Die sieht den herabhängenden Mundwinkel der Mutter, deutet ihn richtig als Anzeichen eines Schlaganfalls und ruft die 112. Keine Viertelstunde später war die Altenessenerin im Philippusstift in Borbeck. Dort sitzt nun ihr Arzt Dr. Oliver Kastrup und sagt: „Frau Scheffler hat damals alles richtig gemacht.“
Kastrup ist Chefarzt der Klinik für Neurologie und Klinische Neurophysiologie am Philippusstift und nimmt den Welt-Schlaganfall-Tag an diesem Samstag, 29. Oktober, zum Anlass für einen eindringlichen Appell: Wer Symptome wie Frau Scheffler zeige, Lähmungen oder Sprachstörungen erlebe, müsse sofort handeln: „Verlieren Sie keine Zeit, jede Minute zählt.“
Ein Schlaganfall ist immer ein Notfall, der tödlich ausgehen oder schwere bleibende Schäden verursachen kann. Ursache ist meist eine Durchblutungsstörung im Hirn: Häufig verschließt ein Blutgerinnsel ein Gefäß. Dieses Gerinnsel kann man in den ersten Stunden nach einem Schlaganfall mit einem stark gerinnungshemmenden Medikament auflösen. Die Erfolgsaussichten dieser Thrombolyse sind „umso besser, je eher die Behandlung beginnt“, sagt Dr. Kastrup.
Essener Mediziner mahnt: „Verlieren Sie keine Zeit, jede Minute zählt“
Mehr als vier Stunden dürften nicht verstreichen, mahnt der Mediziner. Deswegen sei es fatal, wenn Betroffene entscheiden, „noch eine Nacht darüber zu schlafen, bevor sie den Notarzt holen“. Das gelte selbst, wenn die Symptome rasch abklingen: Es könne später zu einer „sekundären Verschlechterung“ kommen, die natürlich ein viel höheres Risiko bedeute, wenn der Patient noch zu Hause ist – und nicht unter Aufsicht im Krankenhaus.
Wer den Rettungswagen ruft, wird nicht ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht, sondern in eine der spezialisierten „Stroke Units“ in Essen, wie es sie seit 20 Jahren auch am Philippusstift gibt. Auf welcher dieser Schlaganfall-Stationen Betten frei sind, rufen die Rettungsteams vorher im Meldesystem ab. Noch auf der Fahrt zur Klinik machen sie die ersten Untersuchungen.
Schreiben und Zähneputzen fällt ihr noch schwer
Inge Scheffler konnte nach zwei Wochen das Krankenhaus verlassen, machte eine Reha, erholte sich wieder vollständig. „Das lief damals glimpflich ab“, sagt Dr. Kastrup. Da seine Patientin unter Vorhofflimmern litt, das zur Bildung gefährlicher Blutgerinnsel führen kann, nimmt sie seither Blutverdünner. Trotzdem hatte sie in diesem Oktober einen zweiten Schlaganfall, den sie nicht ganz so schnell erkannte: „Diesmal hatte ich das nur in der rechten Hand, darum dachte ich erst, das ist ein orthopädisches Problem.“ Diese Verwechslungsgefahr bestehe tatsächlich, wenn nur eine Hand betroffen sei, bestätigt Dr. Kastrup.
Glücklicherweise riet der Orthopäde der 79-Jährigen, einen Neurologen aufzusuchen, um einen möglichen Schlaganfall feststellen zu können. So kam sie diesmal zwar mit Verzögerung ins Philippusstift, hatte aber erneut Glück. Nur Wochen nach dem Schlaganfall erzählt sie, dass es nur noch an der Feinmotorik in der rechten Hand hapere: „Zähneputzen, Schreiben, im Kochtopf rühren – das ist schwierig“, erzählt die Altenessenerin. Anfangs sei ihr sogar die TV-Fernbedienung aus der Hand gefallen: „Die kann ich jetzt festhalten.“
In der Pandemie riefen viele Patienten keinen Notarzt
Es gehe wieder bergauf, sagt Oliver Kastrup. „Von leichteren Schlaganfällen kann man sich oft extrem gut erholen. Wichtig ist es, die schwereren zu verhindern.“ Inge Scheffler nimmt die Blutverdünner daher nun zweimal täglich statt wie zuvor nur einmal. Neben dem Bluthochdruck müsse man das Vorhofflimmern im Blick behalten, sagt Kastrup. Ganz allgemein beuge vor, wer kein Übergewicht hat, aufs Rauchen verzichtet und regelmäßig Sport treibt.
Treten trotzdem plötzlich die typischen Ausfallerscheinungen auf, solle man umgehend den Notarzt rufen. Gerade zu Beginn der Pandemie hätten das leider viele Betroffene unterlassen, sagt Kastrup. „Da wurden alle Krankenhäuser weniger von Notarztwagen angefahren, weil viele Menschen Klinik-Angst hatten.“ Sie fürchteten eine Corona-Infektion – und nahmen dafür andere gesundheitliche Risiken in Kauf.