Bochum. Jede Minute zählt bei Schlaganfall. Eine Bochumer Klinik testet gerade, wie künstliche Intelligenz Patienten helfen kann – und ist begeistert.

„Time is Brain“, sagen Neurologen: Zeit ist Hirn. Vor allem bei Schlaganfall zählt jede Minute. Je früher der Patient behandelt wird, desto besser sein „Outcome“, desto geringer seine Folgeschäden. Eine App, künstliche Intelligenz (KI) macht Mediziner im Bochumer St. Josef-Hospital nun nicht nur klüger, sondern tatsächlich auch: schneller.

Am 15. Juli, frühmorgens, brachte der Krankenwagen den Mann Anfang 70, nennen wir ihn Udo Katt, in die Notaufnahme des Uniklinikums in Bochum: halbseitig gelähmt war er aufgewacht; wirkte benommen; sprach verwaschen, klagte über Sehstörungen. Der diensthabende Neurologe veranlasste eine Computertomographie (CT). Das Ergebnis lag dem Radiologen vom Dienst um 6.09 Uhr vor: Großgefäßverschluss in der rechten Hirnhälfte, eine besonders schwere Form des Schlaganfalls. Um 6.11 Uhr riefen Neurologe und Radiologe vor Ort ihren jeweiligen „Hintergrund“ an: Vorgesetzte, die zuhause bereit stehen für Fragen und kritische Fälle. Da hatten diese die CT-Bilder bereits gesehen, im „Stroke Viewer“ auf ihren Diensthandys. Per Push-Meldung hatte die App sie alarmiert – und die Aufnahmen mittels KI da zudem schon analysiert und quantifiziert; mit rot markiert, wie viel Hirnmasse des Patienten bereits verloren war, mit gelb, wie viel es noch zu retten gab – ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidung für die am besten geeignete Therapieform.

Lyse oder Thrombektomie?

Prof. Carsten Lukas, Chef der Neuroradiologie des KKB, vor CT-Aufnahmen eines Schlaganfall-Patienten. In der App ist das untergegangene Gewebe rot markiert, das noch zu rettende gelb.
Prof. Carsten Lukas, Chef der Neuroradiologie des KKB, vor CT-Aufnahmen eines Schlaganfall-Patienten. In der App ist das untergegangene Gewebe rot markiert, das noch zu rettende gelb. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

„Nach einem Schlaganfall gehen jede Minute zwei Millionen Gehirnzellen kaputt“, verdeutlicht Prof. Christos Krogias, Leiter der Stroke Unit, der Schlaganfall-Spezialstation des Josef-Hospitals, wie sehr in einem solchen Fall die Zeit drängt. Zumal das Fenster für eine der Therapie-Optionen, die sogenannte „Lyse“, sehr klein ist. Spätestens viereinhalb Stunden nach dem Schlaganfall sollte diese medikamentöse Auflösung des Blutgerinnsels begonnen haben. Nur: weiß man in den seltensten Fällen, wann genau der Schlaganfall eigentlich passierte. Klatt etwa war am Abend zuvor um neun ins Bett gegangen. Irgendwann danach ereilte ihn „der Schlag“, aber ob um 21.30 oder erst um 6 Uhr? Im Nachhinein nicht mehr festzustellen.

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Im konkreten Fall entschieden Radiologen und Neurologen nach kurzer Abstimmung: der Thrombus im Kopf von Katt muss mithilfe eines Katheters, der durch die Leiste eingeschoben wird, operativ entfernt werden. Um 6.45 Uhr lag der Patient für die „Thrombektomie“ auf dem Tisch des Neuroradiologen, um 7.34 Uhr war das verschlossene Gefäß wieder frei.

„Künstliche Intelligenz ist wie ein zusätzliches Paar Augen“ – und wird nie müde

Prof. Christos Krogias leitet die Stroke Unit des KKB. Seit 14 Tagen nutzt er den „Stroke Viewer“. Die Patienten profitieren davon, sagt er.
Prof. Christos Krogias leitet die Stroke Unit des KKB. Seit 14 Tagen nutzt er den „Stroke Viewer“. Die Patienten profitieren davon, sagt er. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

„Die App ermöglicht uns, Schlaganfall-Patienten schneller zu versorgen und effektiver zu kommunizieren“, erklärt Prof. Carsten Lukas, Chefarzt der Neuroradiologie, warum seine Klinik den „Stroke Viewer“ als bundesweit erster aktiver Anwender einführte. Die App wird als Dienstleistung auf Jahresbasis beim Hersteller, der Amsterdamer Firmas Nicolab, eingekauft – andere Firmen bieten ähnliches an, „das sprießt gerade“, so Lukas. Der einfache, rasche Austausch mit Kollegen – die auch auf einer Konferenz außer Haus „oder im Urlaub am Strand“ sein könnten, ist auch für Christos Krogias ebenfalls Hauptvorteil der neuen Technik.

Noch läuft in Bochum die Testphase, wir auch noch an Details gearbeitet, doch alle Beteiligten seien schon jetzt „nachhaltig begeistert“. Um in Zweifelsfällen Klarheit über das exakte Ausmaß eines Schlaganfalls zu erhalten, musste der Neurologe früher aus dem „Hintergrund“ erst in die Klinik fahren, sich dort die CT-Bilder selbst anschauen. Die Einschätzung des Arztes vor Ort sei immer subjektiv, manchmal unklar, für die Interpretation der Aufnahmen „braucht es Erfahrung“. Die neue KI, so Krogias, „ist wie ein zusätzliches Paar Augen“ – und sie werde nie müde. Anders als der Dienstarzt, der morgen um sechs oft schon eine anstrengende Zwölf-Stunden-Schicht hinter sich habe. „Und jeder vierte Schlaganfall ist ein Wake-up-Stroke wie bei Herrn Klatt, 60 Prozent passieren außerhalb der regulären Dienstzeiten...“

Großer Zeitvorteil vor allem für zuweisende Kliniken ohne Schlaganfallpatienten

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Schon im August soll die „Stroke Viewer“-App vom Josef-Hospital, wo jährlich 1300 Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall landen, auf andere Häuser des Katholischen Klinikums Bochum „ausgerollt“ werden, kleinere Krankenhäuser ohne entsprechende Expertise, ohne Schlaganfall-Spezialisten. Im ganzen Ruhrgebiet gibt es ja nur 26 Stroke Units, und lediglich elf von ihnen sind in der Lage (wenigstens tagsüber), Thrombektomien vorzunehmen. „Die könnten uns dann ebenfalls per App zurate ziehen – und das spart eklatant viel Zeit, wenn Patienten zugewiesen werden“, erläutert Lukas. 52 Minuten genau, ergab wohl eine erste Hersteller-Studie. Und das bedeutet: 104 Millionen Hirnzellen, die nicht verloren gehen. Herr Klatt, sagt der Radiologe, wäre an seinem „Mediatotalinfarkt“ vermutlich gestorben, hätte er 52 weitere Minuten auf den Behandlungsbeginn warten müssen.

Ein Schlaganfall, sagt Krogias, sei immer ein Drama. Und zwar nicht nur für den direkt Betroffenen, sondern für dessen ganze Familie. Je früher die Durchblutung eines verschlossenen Gefäßes wieder einsetze, desto größer aber „das Reha-Potenzial“. Die Chance schwere, bleibende Behinderungen zu verringern, die Chance auf weitgehende Selbstständigkeit im Alltag nach einem Schlaganfall verdoppele sich durch die App, glaubt der Experte.

Chefarzt: KI wird die Neuroradiologe revolutionieren

Viele Ärzte wüssten nicht, welche Möglichkeiten künstliche Intelligenz biete, meint Lukas. Manche hätten Vorbehalte, fürchteten, KI mache sie arbeitslos – wie es für die „Radiologie als Kernbereich der KI“ tatsächlich prognostiziert worden sei. Er selbst sieht sich in einer „Vorreiterrolle“. „Künstliche Intelligenz wird die Neuroradiologie revolutionieren“, glaubt er. „Ich habe keine Angst davor. Ärzte werden durch künstliche Intelligenz nicht ersetzt. Höchstens die, die sie nicht einsetzen.“

Udo Klatt übrigens, berichtet Christos Krogias, gehe es inzwischen wieder sehr gut, „neurologisch gesehen“. Den armen Mann hatte auch noch das Corona-Virus erwischt...

>>> INFO: Symptome

Typische Symptome eines Schlaganfalls sind plötzlich auftretende einseitige Lähmungen, eines Arms oder Beins oder etwa auch ein hängender Mundwinkel sowie Sprachstörungen. Und dann: „Niemals zögern, auch nicht bei rückläufigen Symptomen, immer sofort die 112 wählen“, so der Schlaganfall-Experte Christos Krogias. Viele Patienten warteten zu lang, „weil diese Lähmungen eben auch nicht weh tun“.