Essen-Altenessen. Der Essener Kinderschutzbund eröffnet eine interdisziplinäre Frühförderstelle im ehemaligen Marienhospital. Das ist das Konzept.
Ein Drittel der Kinder im Norden gehe nicht zu Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt, die Hälfte zeige Defizite bei der verpflichtenden Schuleingangsuntersuchung – diese Zahlen studiert Ulrich Spie, Vorsitzender des Essener Kinderschutzbundes, regelmäßig. Mit der interdisziplinären Frühförderstelle im ehemaligen Marienhospital sollen Prävention und gesundheitlicher Kinderschutz jetzt strategisch aufgebaut werden.
Interdisziplinäre Frühförderung richtet sich an Kinder, die von Behinderung bedroht sind
Anfang Mai beginnt das neunköpfige Team mit der Arbeit in den umgestalteten Räumen im Erdgeschoss der ehemaligen Klinik. Für die Null- bis Sechsjährigen soll es sich wie eine Spielstunde anfühlen, tatsächlich wird mit ihnen heilpädagogisch und physiotherapeutisch, bei Bedarf auch logopädisch gearbeitet. Die interdisziplinäre Frühförderung (IFF) richtet sich an Kinder, die nach der Geburt keinen guten Start ins Leben hatten sowie an entwicklungsverzögerte, behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder im Vorschulalter. „Wir kennen Vierjährige, die kaum sprechen können“, erklärt Spie, der mit seinem Team ein engmaschiges Netzwerk pflegt. Manche Vorschulkinder könnten auch keine Farben benennen.
„Beim Kita-Eintritt fällt so etwas auf“, erklärt Birgit Pammé, Fachbereichsleiterin für Kindesentwicklung beim Kinderschutzbund – falls die Kinder in den Kindergarten gehen. Auch das ist im Essener Norden nicht immer selbstverständlich. Der Kinderschutzbund betreibt in Essen elf Kindertagesstätten und vier Lernhäuser und tauscht sich regelmäßig mit den Mitarbeiterinnen dort, den Kinderärzten im Norden sowie den Geburtskliniken aus. Im besten Fall könnten Auffälligkeiten so schnell erkannt und weitergeleitet werden. Pammé weiß, dass die Eltern oft sehr gewillt sind und nur das Beste für ihr Kind wollen. Man müsse sie aber an die Hand nehmen.
Deswegen seien die Eltern auch stets dabei, wenn die Kinder in den Frühförderstunden im Spiel neue Fertigkeiten und Fähigkeiten lernen und ausprobieren. Balancieren, Schaukeln, Basteln und Spielen: Die 250 Quadratmeter im Marienhospital erinnern nicht mehr an Patientenzimmer oder Büros. Sie wurden komplett umgestaltet und mit Teppich ausgelegt. Schaukeln, Matten, Balanciersteine, aber auch dicke Buntstifte in allen erdenklichen Farben sowie Scheren werden hier gebraucht. Nicht selten gehen die Familien mit Hausaufaufgaben aus den Therapiestunden: „Hüpfen Sie jeden Abend auf einem Bein vom Bad ins Kinderzimmer – aber alle zusammen.“
350 Fachkräfte, 500 Ehrenamtler
Der Kinderschutzbund Essen e.V. betreibt stadtweit rund 20 Einrichtungen, in denen 350 Fachkräfte arbeiten und sich 500 Ehrenamtliche engagieren. Das Spektrum reicht von Kitas und Familienzentren über Beratungs- und Bildungsangebote wie den Lernhäusern bis zu den Kindernotaufnahmen „Spatzennest“ und „Kleine Spatzen“. Der Kinderschutzbund versteht sich auch als Lobby für Kinder.
Die Zukunftsplanungen für den Gesundheitsstandort in Altenessen sind nach Angaben von Krankenhausbetreiber Contilia von dieser Einrichtung unabhängig zu betrachten und werden parallel fortgesetzt.
Ulrich Spie: „Wenn wir die Defizite früh erkennen, können die Kinder sie schnell kompensieren“, das zeige die Erfahrung. Praktisch läuft es so, dass der Kinderarzt oder die Ärztin das Kind aufgrund von Entwicklungsstörungen ins IFF überweist und dort zunächst ein Erstgespräch stattfindet. Heilpädagogik ist dann ein fester Bestandteil der Therapie, die gegebenenfalls durch Logopädie, Ergotherapie und oder Physiotherapie ergänzt wird. Die Kinder kommen in der Regel zweimal in der Woche für jeweils 45 Minuten.
Zentrum für Kindesentwicklung ebenfalls im Essener Marienhospital
Die Nachfrage ist schon jetzt hoch, nach Angaben von Birgit Pammé warten bereits 30 Familien auf die Eröffnung der Frühförderstelle im Mai. Ähnliche Angebote gibt es in Essen unter anderem auch im Franz-Sales-Haus in Kray. „Unsere Eltern fahren nicht dorthin“, weiß Pammé.
Wenn die Kinder in die Schule kommen endet zwar die interdisziplinäre Frühförderung, ebenfalls im ehemaligen Marienhospital ansässig ist jedoch das Zentrum für Kindesentwicklung – auch eine Einrichtung des Essener Kinderschutzbundes. Auf weiteren 300 Quadratmetern wird hier mit Kindern bis ins Jugendalter gearbeitet, die beispielsweise Konzentrationsschwierigkeiten oder ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom aufweisen (ADHS). „So können wir einen fließenden Übergang schaffen, wenn die Kinder in die Schule kommen“, erklärt Pammé. Der Schlüssel sei oft das Vertrauen der Eltern. Wenn das einmal gewonnen sei, könne man viel erreichen.