Essen. Am Aalto-Theater Essen startet die Saison mit „Tannhäuser“. Wie Wagners Oper bei Paul-Georg Dittrich zur Zeitreise durch die Bildende Kunst wird.
„Ehrlich gesagt, bin ich erst bei der Regie-Anfrage von Hein Mulders mit ,Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg’ wirklich intensiv in Berührung gekommen“, gesteht Paul-Georg Dittrich. Das Aalto-Theater startet in die neue Saison mit seiner Inszenierung von Wagners vielfach bearbeiteter Oper. Der Regisseur („Orfeo|Euridice“ „Herzog Blaubarts Burg“), der seit einigen Jahren zumeist gefeiert, aber auch mal gefeuert wurde, inszeniert sie als Zeitreise eines Künstlers durch die Bildende Kunst.
https://www.waz.de/staedte/essen/essener-aalto-opern-klassiker-und-ein-tramp-namens-chaplin-id235190529.htmlEr wuchs in einem Musikerhaushalt im brandenburgischen Zeuthen bei Berlin auf. „Ein wunderbarer Ort“, sagt er. Der Vater galt als einer der bedeutendsten Komponisten der damaligen DDR, die Mutter war Musikwissenschaftlerin. „Zeitgenössische Musik stand an der Tagesordnung“, sagt er. „Der Weg war eigentlich vorgegeben. Das Erlernen von Instrumenten scheiterte an meiner Faulheit.“ Die ersten Jahre nach der Theaterakademie Hamburg waren denn auch geprägt vom Schauspiel. Dann leckte er Blut und ist dem Musiktheater seit mehr als sechs Jahren verbunden.
Dittrich steht für bildgewaltiges wie kritisches Theater
Er brachte Berg, Berlioz, Bartók, Penderbayne, Auber, Verdi von Berlin bis Stuttgart auf die Bühne. Von Anfang an gab es Theaterpreise und Nominierungen, die den innovativen Charakter seiner Inszenierungen lobten. Paul-Georg Dittrich steht für bildgewaltiges wie kritisches Musiktheater, für poetisches Geschichtenerzählen, das audio-visuelle Medien wie die Unterwasserbilder bei „Orfeo|Euridice“ einbezieht, für den Dialog mit dem Publikum, für das Übertragen der Musik ins Heute.
„Die Musik bei der Essener Tannhäuser-Inszenierung bleibt unangetastet“, verspricht der 39-Jährige. Die Geschichte des ewig Suchenden Tannhäusers (hier: Daniel Johansson), der sich zwischen den Frauen Elisabeth und Venus und ihrer christlichen und sündigen Welt entscheiden muss, keineswegs. Er zeigt ihn als rastlosen Künstler, der durch die Epochen streift, nie Stillstand will, weil Stillstand Tod bedeutet. Dittrich sieht gar in Tannhäuser Wagner selbst. Der beschäftigte sich auch nach der Uraufführung 1845 in Dresden immer wieder mit seinem „Tannhäuser“. In keinem seiner anderen Werke nahm er so viele Umgestaltungen wie in dieser romantischen Oper vor.
Essener Tannhäuser spiegelt Sehnsüchte und Abgründe
Der Regisseur zeigt seinen Protagonisten im Wandel der Zeiten vor der zerbrochenen „Venus von Milo“, vor Raffaels von Männern geprägten „Schule von Athen“ und blickt schließlich in Essens Gegenwart auf die Inszenierung selbst. Was nichts an dem Charakter ändert, „der durch sein Sein, Handeln und Agieren bestehende Gesellschaftsnormen und Strukturen in Frage stellt. Er ist ein Störenfried und nimmt kein Blatt vor dem Mund“, so Dittrich, der sicher ist, dass uns Tannhäuser heute noch berührt: „Das dionysische und apollinische Weltenmodell in Wagners Oper lese ich nicht nur im Zwiespalt von Lust und Liebe. Es geht darüber hinaus und spiegelt verschiedenste emotionale unausgelebte Sehnsüchte und zugleich verborgene Abgründe von Gestern, Heute und Morgen wieder.“
Audio-visuelle Medien schaffen eine zweite Ebene
Doch kann es sein, dass eine Elisabeth heute noch für die Liebe sterben muss, dass Tannhäuser für die Lust büßen muss und die Venus, für ihren Genussreichtum abgestempelt, auf Liebe verzichten muss? Mit den Videobildern von Vincent Stefan, die im Museum Folkwang und im Green-Screen-Studio entstanden sind sowie live während der Vorstellung entstehen, werden Zweifel gesät. „Es ist eine Möglichkeit, eine zweite Ebene zu schaffen und etwas anderes zu erzählen, aber auch Fragen zu stellen und mit den Zuschauern in Dialog zu treten“, meint der nach Auseinandersetzung strebende Künstler.
Obwohl von der Opernbranche als Shooting-Star gehypt, haben sich die Bayreuther Festspiele noch nicht gemeldet. Er ist auch nicht wild darauf: „Dieser Rummel um den Mythos Bayreuth hat nichts mit Kunst zu tun.“ Er sei dankbar, diesen Beruf ausüben zu können und glücklich über die spannenden Angebote unterschiedlichster Häuser. Für den Essener Ex-Intendanten Hein Mulders wird er in einem Doppelabend in Köln „Der Zwerg“ realisieren, in Münster wird er sich „Elektra“ widmen.
Das nachhallende Lob, die stetige Nachfrage und auch einen schmerzenden Rausschmiss in Hamburg wegen künstlerischer Differenzen lassen ihn nicht die Bodenhaftung verlieren. „Meine Familie, meine Kinder“, sagt Paul-Georg Dittrich, „erden mich und ich versuche, mir treu zu bleiben.“