Essen. Regisseur Paul-Georg Dittrich deutet Glucks Oper als Reise ins eigene Ich. In der Aalto-Inszenierung kommen auch Essener Mediziner zu Wort.

Vom Venusberg in die Tiefen des Hades: Der Kontrast hätte kaum größer sein können. Statt Wagners Tannhäuser beim Sängerkrieg auf der Wartburg zu begleiten, geht Regisseur Paul-Georg Dittrich am heutigen Samstag mit Orpheus in die Unterwelt. Christoph Willibald Glucks Reformoper „Orfeo/Euridice“ ist die Antwort auf gegenwärtige Corona-Beschränkungen, die manches unmöglich machen: Keine Chöre auf der Bühne, kein voll besetzter Orchestergraben, keine allzu große Nähe zwischen den Sängern. Da bot sich die Geschichte vom unglücklichen Orfeo an, der sich auf die Suche macht nach seiner Geliebten Euridice, um mit der Kraft der Musik den Tod zu überwinden.

„Wir haben uns als Team mit Lust in das Abenteuer geworfen“

Dittrich hat das Konzept der Inszenierung binnen weniger Wochen entwickelt. Eine Herausforderung für den komplexen und aufwendigen Apparat Musiktheater, wo sonst Monate im Voraus geplant wird. Und doch hat der junge, hoch gelobte Bühnenvisionär die neue Situation sogar „als sehr befreienden Akt“ empfunden. „Die erzwungenen Einschränkungen fordern noch mal eine andere Kreativität“, sagt Dittrich, „es setzt ganz andere Synergien frei. Wir haben uns als Team mit Lust in das Abenteuer geworfen.“


Als vielgefragter Regisseur, dem die tradierten Konventionen, verstaubten Sichtweisen und künstlerischen Routinen ohnehin ein Graus sind, weiß der 37-Jährige das etwas abgegriffene Motto von der Krise als Chance durchaus kreativ zu nutzen. Auch mit audiovisuellen Medien, die für ihn nicht nur modisches Einsprengsel, sondern eine Erweiterung der visuellen Möglichkeitsräume sind. So hat Videodesigner Vincent Stefan unter anderem „Unterwelt“-Szenen an verschiedenen Essener Orten gedreht, wie auf Zollverein oder im Schwimmzentrum Rüttenscheid, wo die Aalto-Tänzer Larissa Machado und Dale Rhodes für die Inszenierung buchstäblich baden gegangen sind.

Paul-Georg Dittrich hat in dem Stoff „viele zeitgemäße Motive“ entdeckt

Gefangen in seiner eigenen Seelenlandschaft: Aalto-Sängerin Bettina Ranch übernimmt die Partie des Orfeo.   
Gefangen in seiner eigenen Seelenlandschaft: Aalto-Sängerin Bettina Ranch übernimmt die Partie des Orfeo.   © Unbekannt | Mattias Jung


Und obwohl man auf der Aalto-Bühne nun Menschen erlebt, die nicht nur die Götter, sondern auch ein neuartiges Virus am Zusammenkommen hindern, versteht Dittrich sein ästhetisches Konzept nicht als vermeintlich moderne „Corona-Variante“ eines Werks aus dem 18. Jahrhundert. Ihm geht es nicht um eine oberflächliche Aktualisierung, sondern um neue Wege des theatralen Erzählens. Trotzdem hat der Regisseur in dem archetypischen Stoff „viele zeitgemäße Motive“ entdeckt. Denn so wie wir uns derzeit an die Hoffnung auf eine Rückkehr in die vermeintliche Normalität klammern, so hält auch dieser Orfeo an etwas eigentlich schon Verlorenem fest.

Auf zahllose Rettungsmissionen ist dieser mythische Held schon geschickt worden. Dittrich versteht das Stück aber vor allem als „einen großen Monolog“ und die Wanderung hinab in den Hades gewissermaßen als eine Reise ins eigene Ich. So ist aus „Orfeo ed Euridice“ in Essen auch das „ed“ verschwunden. „Orfeo/Euridice“, das sind nun zwei Seiten einer Person.

Videointerviews sorgen für einen „Einbruch der Realität“

Die Konfrontation mit deren Ängsten, Sehnsüchten, Alpträumen erlebt das Publikum in Essen auch als eine Art Kranken- und Leidensgeschichte, für die Dittrich verschiedene Essener Mediziner um fachlichen Rat gebeten hat. Mit ihrer Expertise leuchtet der Regisseur das Schattenreich neu aus. Und gewährt uns somit auch einen Blick in die Innenwelt von Schlaganfall-Patienten und Menschen, die am Locked-in-Syndrom leiden – ihrem Gefühl der Einsamkeit und des Eingeschlossenseins. Erst, wer das Verlorene akzeptiere, die Beschränkung annehme, könne die Schattenwelt wieder verlassen oder zumindest in eine andere Wirklichkeit umdeuten, glaubt Dittrich.

Neben den Gesprächen mit Ärzten wurden im Vorfeld auch Videointerviews mit Betroffenen geführt, die Teil des Abends werden und immer wieder für einen „Einbruch der Realität“ sorgen, sagt Dittrich, der dem Publikum bei aller Bildervielfalt auch Deutungs-Freiraum lässt. „Ich finde es wichtig, dass man mehrere Wahrheiten zeigt und der Zuschauer seine eigene Haltung finden muss.“

Seine Arbeitsweise hat Erfolg. Allein die Liste seiner Stadttheater-Inszenierungen ist lang: Heiner Müllers „Auftrag“ in Aachen, „Wut“ am Theater Erlangen, „Gegen die Wand“ in Bremerhaven. Auch in der Oper hat Paul-Georg Dittrich längst den Shooting-Star-Status untermauert: Mit Werken wie Berlioz’ „Damnation de Faust“, einem viel beachteten „Fidelio“ in Bremen oder der Uraufführung „Wolfsschlucht“ in Berlin.

Die Corona-Pandemie hätte mehr Spielraum für Experimente geboten

Wenn es um die Zukunft des Musiktheaters geht, setzt Dittrich dabei nicht nur auf zeitgemäße Bildsprache. Vor allem die Kluft zwischen klassischer Oper und zeitgemäßer Musik gelte es zu überwinden. Die Corona-Pandemie hätte den Häusern seiner Meinung nach auch die Chance geboten, zeitgenössische Komponisten spontaner einzubinden. In einer Zeit, „in der definitiv weniger Zuschauer kommen dürfen und man sich ganz anders vor der Politik, den Geldgebern legitimieren muss, könnte man ganz andere Experimente wagen“, findet Dittrich. Da fehle ein gewisser Mut in der deutschsprachigen Opernlandschaft.


Doch er will die Kritik nicht allzu hoch hängen angesichts der Tatsache, dass die Theater im Land derzeit unter größten Anstrengungen den Neustart versuchen. Es sei ein großes Privileg, wieder mit Menschen arbeiten zu dürfen. „Der Lappen muss endlich wieder hochgehen“, sagt Dittrich und hofft, dass auch Wagners „Tannhäuser“ in nicht allzu ferner Zukunft seine Aalto-Premiere erlebt. Die Vorbereitungen sind längst abgeschlossen. „Wir können sofort loslegen.“



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