Essen. Eine Frau (30) aus Coesfeld will mit ihrem E-Rolli in Essen in den RE 14 steigen. Aber der Schaffner weist sie ab. Chronologie einer Entgleisung.
Wenn Lisa Wehland (30) aus dem Münsterland ihren Freund Christian Seysen (31) in Essen-Gerschede besuchen will, ist der Aufwand immens. Denn die junge Frau ist von Geburt an linksseitig gelähmt und in ihrer Beweglichkeit enorm eingeschränkt. Jede Zugfahrt nach Essen will durch Telefonate und Reservierungen detailliert und minuziös vorbereitet sein. Ein Jahr lang hat das hervorragend geklappt, doch dann kommt der 3. April, ein Sonntag: Am S-Bahnhof Borbeckweigert sich der Zugbegleiter der Nordwestbahn (NWB), für sie und ihren E-Rolli die Rampe auszufahren – angeblich aus „Sicherheitsgründen“.
[Abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Newsletter mit Nachrichten aus Essen]
Es kommt zu einem erbitterten Streit, schließlich muss sogar die Polizei eingreifen. Am Ende fährt der Zug ohne die junge Frau ab, sie ist mit den Nerven am Ende. Doch zwei Wochen später kommt die überraschende Wende. Denn das Bahnunternehmen räumt auf Anfrage unserer Redaktion ein: „Leider hat unser Kundenbetreuer am 3. April in der beschriebenen Situation falsch reagiert.“
Das schöne Wochenende des jungen Paares in Essen endet um 18.37 Uhr sehr abrupt
Die Chronologie einer Entgleisung: Es ist kurz nach halb sieben an diesem Sonntagabend. Lisa Wehland hat den Bahnsteig gut erreicht, der Aufzug ist ebenerdig zu erreichen und hat genug Platz für ihren knallroten E-Rolli. Nach dem schönen Wochenende in Essen soll’s fahrplanmäßig um 18.37 Uhr mit dem RE 14 zurückgehen nach Coesfeld. Dort würde ein Sanitätsdienst sie aufnehmen und sie nach Legden bei Ahaus zu ihrer Wohnung bringen.
Wie immer begleitet Christian Seysen sie bis zur Zugtür. Das Paar hat sich vor einem Jahr im Internet kennengelernt und verliebt.
Er erinnert sich gut an die Ereignisse an jenem Sonntagabend. Der Schaffner habe sofort abgewunken und gesagt: „Wir machen das nicht.“ Seine Begründung: Die Kante sei für den Rolli einfach zu steil. Er habe seine Vorschriften, wolle nicht seinen Job verlieren.
Menschen mit Behinderung, die regelmäßig Zug fahren, kennen das Problem zur Genüge: Überall im Land haben Bahnsteige und Fahrzeuge unterschiedliche Höhen. Die Bahn arbeitet an der Behebung des Problems. Aber den sogenannten „niveaugleichen Einstieg“ wird es – zumindest für 90 Prozent der Fahrgäste in NRW – wohl erst 2030 geben, so ein DB-Sprecher.
Schaffner lehnt Beförderung ab – da blockiert der Essener die Zugtür
In Borbeck liegt der Bahnsteig für RE 14-Fahrgäste gut 25 Zentimeter höher als der Zug. Anders verhält es sich bei der S 9, die hier niveaugleich ankommt. Lisa Wehland ist deshalb darauf angewiesen, dass die NWB-Leute für ihren E-Rolli eine mobile Rampe als Einstiegshilfe aufstellen. Doch dieser Schaffner schüttelt den Kopf. Er befürchte, die auf 350 kg Traglast ausgelegte Rampe könne sich durchbiegen. Dabei wiege der Rolli gerade 140 kg, hält Seysen dagegen.
Er glaubt an einen schlechten Scherz und verweist darauf, dass es ein Jahr lang keinerlei Probleme gegeben habe. „Lisa hat dem Schaffner auch die Bestätigung gezeigt.“ Doch auch das hilft nicht. Dem jungen Paar wird stattdessen empfohlen: Fahrt vom gegenüberliegenden Bahnsteig mit der S 9 zum Hauptbahnhof und steigt dort niveaugleich in den RE 14. Doch Seysen widerspricht: „Der Einstieg ist auch am Hauptbahnhof nicht ebenerdig.“
Nun spitzt sich die verbale Auseinandersetzung zu. Der 31-jährige Essener, von Beruf Programmierer, wirft dem NWB-Zugbegleiter vor, diskriminierend zu sein. Außerdem droht er damit, die Polizei zu rufen. Um die Abfahrt des Zuges, ohne seine Lisa, zu verhindern, stellt er sich in die Tür und blockiert sie. Der Schaffner müsste handgreiflich werden, um ihn von dort wegzukriegen. Aber das darf er nicht.
Schaffner droht mit 5000 Euro Geldstrafe für lange Zugverspätung
Der Lokführer des mit vielen Ausflüglern besetzten Zuges setzt in der Zwischenzeit eine erste Durchsage ab, die Weiterfahrt des Zuges verschiebe sich leider um wenige Augenblicke.
Nun droht der Schaffner seinerseits Lisa Wehlands kämpferischem Freund ernste Konsequenzen an. Seine Blockade verursache eine gehörige Verspätung, für die der Verkehrsverbund der NWB 5000 Euro Strafe in Rechnung stelle. Immense Kosten, die selbstverständlich er als Verursacher zu tragen habe.
Nun ruft Christian Seysen die Polizei. Aber bis der Streifenwagen eintrifft, vergeht eine weitere Viertelstunde. Einige Fahrgäste bieten ihre Hilfe an, wollen den Rolli ins Abteil heben. Andere, darunter auch muslimische, haben hingegen wenig Verständnis für Seysens einsamen Protest. Denn kurz zuvor hatte der Fastenmonat Ramadan begonnen und das heißt von Sonnenauf- bis untergang kein Essen und Trinken. „Ich will endlich nach Hause, habe Hunger“, ärgert sich einer.
„Lisa sagte mir später im Bus, sie sei eine Last und nicht gut genug für mich“
Die Polizisten vermögen den Streit ebenfalls nicht zu schlichten, aber gegen 19 Uhr gibt Christian Seysen seinen tapferen Kampf schließlich auf. Der Zoff mit dem Zugschaffner hat das junge Paar total aufgewühlt. Die behinderte Frau bricht in Tränen aus. „Lisa sagte mir später im Bus, sie sei eine Last und nicht gut genug für mich. Ich solle mir doch eine andere suchen, die einfacher wäre.“ Sätze, die dem sensiblen Essener die Kehle zuschnüren.
Lisa Wehland bleibt nichts anderes übrig, als die Eltern um Hilfe zu bitten. Diese holen sie mit dem Auto ab, der Sanitätsdienst in Coesfeld wird einen Verdienstausfall geltend machen.
Christian Seysen schreibt noch am selben Abend einen Brief an diese Zeitung, um über den dramatischen Vorfall zu berichten: „Lisa ist seitdem traumatisiert und traut sich nicht mehr mit dem Zug zu fahren, um zu mir zu reisen. Sie wurde auch von der Arbeit krank geschrieben.“
Nordwestbahn entschuldigt sich: „Leider hat unser Kundenbetreuer am 3. April falsch reagiert“
Die Nordwestbahn hat inzwischen auf Anfrage dieser Zeitung reagiert – und sich für den Vorfall in Borbeck umfassend entschuldigt. „Frau Wehland fährt regelmäßig mit der Nordwestbahn und alle Voraussetzungen für einen sicheren Transport als auch ein sicherer Ein- und Ausstieg sind bei Frau Wehland gegeben.“ Zudem sei sie ein gerngesehener Fahrgast, so berichteten es die Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig auf der Strecke unterwegs seien, so ein Sprecher.
Nicht nur der Kundenbetreuer habe am 3. April falsch reagiert, auch andere Kollegen auf dem Zug hätten die Situation nicht auflösen können, heißt es weiter in der NWB-Stellungnahme.
Eine möglichst einfache Reise für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sei für die Nordwestbahn ein sehr wichtiges Anliegen. „Umso tragischer ist es, dass in dieser Situation das Gegenteil erreicht wurde. Wir haben die Kolleginnen und Kollegen nochmals geschult und klar zum Ausdruck gebracht, dass gerade in Situationen, in denen Menschen involviert sind, die ohnehin schon viele Hürden zu überwinden haben, sehr sensibel und bedacht vorgegangen werden muss“, fügt der NWB-Sprecher hinzu.
So hilft die Mobilitätsservicezentrale der Deutschen Bahn
Die Deutsche Bahn hat eine Mobilitätsservicezentrale (MSZ) eingerichtet. Über die MSZ können Ein-, Um- und Ausstiegshilfen angefordert werden. Aber auch Fahrkarten, Reservierungen und Fahrplanauskünfte sind über die MSZ erhältlich.Ebenso gibt die MSZ zur Barrierefreiheit von Bahnhöfen und Fahrzeugen Auskunft.Der Wunsch nach Ein- und Ausstiegshilfen muss spätestens am Vortag um 20 Uhr angemeldet werden. Die MSZ ist telefonisch erreichbar unter 030 6521288.
Weiter heißt es: „Wir möchten uns, auch im Namen unserer Kolleginnen und Kollegen, die diesen Vorfall sehr bedauern, aufrichtig bei Frau Wehland, als auch bei ihrem Begleiter entschuldigen. Leider können wir diese Situation nicht rückgängig machen, dennoch hoffen wir, dass wir beide bald wieder in unseren Zügen begrüßen dürfen und ebenso hoffen wir ihnen mit einer Einladung für einen gemeinsamen Ausflug eine kleine Freude bereiten zu können.“ Lisa Wehland, so der Sprecher, habe sich über die Entschuldigung gefreut.
Die vergangenen Ostertage haben Lisa Wehland und Christian Seysen erneut gemeinsam in Essen verbracht. Und ihre Zweifel an der Beziehung? Christian Seysen lächelt: „Es könnte was Festes werden mit uns.“